Der verborgene Garten - Der verborgene Garten - The Forgotten Garden
gewesen sein, aber er hatte den Schritt getan, der sie auf diesen Weg geführt hatte, und nun lag es an ihm, die Dinge richtigzustellen. Geheimnisse kamen immer irgendwann ans Tageslicht, und es war besser, sie erfuhr die Wahrheit von ihm.
Er nahm Nells Hände, hauchte auf jede einen Kuss. Drückte ihre zarten Finger fest mit seinen von harter Arbeit schwieligen Händen.
Seine Tochter. Seine Älteste.
Sie lächelte ihn an. Sie wirkte so strahlend in ihrem duftigen, spitzenbesetzten Kleid.
Auch er lächelte.
Dann führte er sie zu einem umgestürzten Gummibaum, und sie setzten sich nebeneinander auf den glatten, weißen Stamm. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr das Geheimnis ins Ohr, das er und ihre Mutter siebzehn Jahre lang gehütet hatten. Wartete auf das Zeichen, dass sie verstand, auf eine wenn auch noch so winzige Veränderung in ihrem Gesichtsausdruck, als sie begriff, was er ihr da offenbarte. Sah zu, wie der Boden sich unter ihr auftat und der Abgrund die Person, die sie bis dahin gewesen war, verschluckte.
3 Brisbane Australien, 2005
Cassandra hatte das Krankenhaus seit Tagen nicht mehr verlassen, obwohl der Arzt ihr kaum Hoffnungen machte, dass ihre Großmutter noch einmal zu klarem Bewusstsein kommen würde. Das sei sehr unwahrscheinlich, hatte er ihr erklärte, bei ihrem Alter und angesichts der Menge an Morphium in ihrem Körper.
Die Nachtschwester kam, woraus Cassandra schloss, dass es inzwischen Abend war. Wie spät genau, wusste sie nicht. Hier im Krankenhaus war das schwer zu sagen: Die Beleuchtung war ständig eingeschaltet, ununterbrochen lief irgendwo ein Fernseher, den man hören, aber nicht sehen konnte, Medikamentenwagen wurden zu jeder Tages- und Nachtzeit durch die Korridore geschoben. Es hatte etwas Ironisches, dass ein Ort, an dem so vieles von Routine abhing, völlig außerhalb des normalen Zeitrhythmus funktionierte.
Dennoch wartete Cassandra. Wachte an Nells Bett und tröstete sie, während Nell in einem Meer aus Erinnerungen versank und zum Luftholen aus immer weiter zurückliegenden Zeiten auftauchte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihre Großmutter entgegen aller Wahrscheinlichkeit ihren Weg aus der Tiefe zurück in die Gegenwart finden könnte, nur um festzustellen, dass sie allein am äußersten Rand des Lebens trieb.
Die Schwester tauschte den leeren Infusionsbeutel gegen einen vollen aus, drehte einen Knopf an einem Gerät hinter dem Bett und machte sich daran, das Bettzeug zu richten und Nell ordentlich zuzudecken.
»Sie hat noch gar nichts zu trinken bekommen«, sagte Cassandra. Ihre eigene Stimme klang fremd in ihren Ohren. »Den ganzen Tag noch nicht.«
Die Schwester blickte auf, überrascht, dass sie angesprochen wurde. Über ihre Brille hinweg schaute sie Cassandra an, die, eine zerknitterte blau-grüne Krankenhausdecke auf den Knien, auf einem Sessel saß. »Gott, haben Sie mich erschreckt«, sagte sie. »Sie sind schon den ganzen Tag hier, nicht wahr? Ist wahrscheinlich auch gut so, es wird nämlich nicht mehr lange dauern.«
Cassandra ging nicht auf die Anspielung ein. »Sollten wir ihr nicht etwas zu trinken geben? Sie hat doch bestimmt Durst.«
Die Schwester schlug die Laken um und steckte sie unter Nells dünnen Armen fest. »Machen Sie sich keine Sorgen. Diese Infusion sorgt dafür, dass sie genug Flüssigkeit bekommt.« Sie überprüfte etwas auf Nells Krankenblatt und sagte ohne aufzublicken: »Am Ende des Korridors steht ein Automat, da können Sie sich einen Tee zubereiten, wenn Sie wollen.«
Als die Schwester gegangen war, sah Cassandra, dass Nell die Augen geöffnet hatte und sie anstarrte.
»Wer bist du?«
»Ich bin Cassandra.«
Verwirrung. »Kenne ich dich?«
Obwohl der Arzt sie darauf vorbereitet hatte, schmerzte es sie, dass ihre Großmutter sie nicht erkannte. »Ja, Nell.«
Nell schaute sie mit ihren grauen, wässrigen Augen an. Sie blinzelte verunsichert. »Ich kann mich nicht erinnern …«
»Schsch … Ist schon gut.«
»Wer bin ich?«
»Du heißt Nell Andrews«, sagte Cassandra sanft und nahm ihre Hand. »Du bist fünfundneunzig Jahre alt, und du wohnst in einem alten Haus in Paddington.«
Nells Lippen zitterten - sie konzentrierte sich, versuchte, den Sinn der Worte zu begreifen.
Cassandra zog ein Kleenex aus einer Schachtel auf dem Nachttisch und wischte Nell vorsichtig einen Speichelfaden vom Kinn. »Du hast einen Stand auf dem Antiquitätenmarkt auf der Latrobe Terrace«, fuhr sie leise fort. »Wir
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