Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verbotene Garten

Der verbotene Garten

Titel: Der verbotene Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ami McKay
Vom Netzwerk:
rissig, und außerdem waren sie mir inzwischen fast zu klein. Doch es waren meine. Ich hatte Mrs. Riordan fünf Cent für die Stiefel gegeben. Sie stammten von einem toten Mädchen, das sie für die Beerdigung hergerichtet hatte. Das Mädchen war an der Tuberkulose gestorben, und seine Mutter hatte zu Mrs. Riordan gesagt, sie solle die Stiefel behalten, das sei das Mindeste, was sie ihr schulde.
    Ein Mädchen mit Schuhen kann den Kopf ein klein wenig höher tragen. Es kann fortlaufen.
    Â»Wo sind sie denn?«, fragte ich Mama.
    Â»Weg.«
    Â»Wo?«
    Â»Bei Mr. Piers … Aber du brauchst ihn gar nicht erst zu fragen. Er hat sie auf der Stelle zerlegt.«
    Mr. Piers war Messerschleifer und rollte mit seinem Handkarren die Chrystie Street hinauf und hinunter. Er hatte immer glänzende Hände – nicht von Speck, wie die eines Metzgers, sondern von dem Öl, mit dem er die Klingen polierte und schärfte. Mr. Piers trug das Haar in zwei langen Zöpfen, seine Augen waren beinahe schwarz. Unter den Frauen unseres Viertels galt er als der stattlichste Mann weit und breit. Ich hatte das ebenso gesehen. Bis jetzt.
    Mr. Piers rasierte auch die verlausten Köpfe und verkaufte flaschenweise Dr. Godfrey’s Cordial. Abends saß er auf der Straße und betätigte das Schleifrad mit den Füßen, bis die Funken flogen. Er sah aus wie der Teufel in Menschengestalt, wenn er dort auf die Frauen wartete, die nach seinem »Besten« gierten.
    Unter Müttern hieß der Trunk nur »Ruhe und Frieden«, weil ihre zahnenden Babys mit dem Geschrei aufhörten, sobald man es ihnen auf den rohen, roten Gaumen rieb. Einige Tropfen unter die Zunge, und das Kind fiel in tiefen Schlaf. Mama sagte, auf sie habe der Trunk die gleiche Wirkung, und so leerte sie jedes Mal, wenn sie des Lebens überdrüssig war, eine halbe Flasche. Ich sah es etwas anders. In meinen Augen bestand die Wirkung allein darin, dass Mama sich dann in unserem kleinen Zimmer nicht mehr zurechtfand. Ich hasste die eckigen Flaschen und ihre vollmundigen, aufdringlichen Etiketten.
    Auch Mamas Geschäft litt unter der sommerlichen Hitze. »Je heißer es wird, umso geringer die Bereitschaft, eine womöglich schlechte Nachricht anzuhören«, sagte Mama an jedem Tag, der ohne Kundschaft verging. »Wenn der September erst mal kommt, ist auch wieder mehr los. Du wirst sehen.«
    Als sich unsere Vorratsschränke leerten, wanderte alles, was wir nicht dringend brauchten, zu Mr. Piers. Im Juli ging Mama schon alle paar Tage zu ihm und tauschte irgendetwas gegen ein wenig Geld oder, öfter noch, eine Flasche Dr. Godfrey’s ein. Meine Stiefel wurden dem Trank geopfert, ebenso wie Mamas Schildpattkämme und das Amulett, das sie zum Schutz gegen den bösen Blick um den Hals getragen hatte.
    Â»Ich besorg dir ein neues Paar«, versprach sie. »Wenn der September erst mal kommt.«
    Bald darauf begann sie von Müttern zu sprechen, die eine Anstellung für ihre Tochter gefunden hätten, als Hausmädchen oder Küchenhilfe, als Näherin oder Wäscherin. Sie erging sich dabei in allen Einzelheiten und machte aus den Dienstmädchen die reinsten Heiligen. »Die Familie stand kurz vor dem Ende – kein Essen im Spind, kein Geld, nirgends.« Dann seufzte sie voll tiefer Bewunderung. »Doch dann wurde die Tochter zur Rettung. Wenn sie nichts getan hätte, wären alle tot.«
    Die Geschichten waren immer die gleichen. Zunächst kratzte eine verzweifelte, abgerackerte Mutter genügend Pennys für ein Stellengesuch im Evening Star zusammen. Dann, eine Woche später (auf den Tag), wurde die Tochter besagter Frau, »ein helles und fügsames Mädchen, wohlgemerkt«, wie durch ein Wunder aus dem Slum geholt und in eine Stellung befördert, die so einträglich war, dass es die Familie mehr als vor dem Verhungern rettete. »Das Mädchen lebt bei einer vornehmen, gesitteten Dame, weit oben am Gramercy Park. Sie habe über ein Dutzend Dienstmädchen beschäftigt, sagt die Mutter, und das Haus sei so groß, dass die Zimmer nicht zu zählen sind. Kannst du dir so etwas vorstellen?«
    Konnte ich nicht. Zumindest nicht so, wie es sich Mama erhoffte.
    Wenn ich mir ein derart prachtvolles Heim vorstellte, dann war es das Anwesen von Miss Keteltas, und mich sah ich nicht als Dienstmädchen oder Köchin darin, sondern als Dame des Hauses. In einem Kleid

Weitere Kostenlose Bücher