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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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selbst. Fortschig wird den Artikel gegen Emmenberger schreiben, und da er reist, muß ich mir keine grauen Haare wachsen lassen. Nicht einmal Hungertobel braucht davon etwas zu wissen. Der sollte jetzt kommen. Ich hätte eine ‹Little-Rose› nötig.»

 
ZWEITER TEIL

Der Abgrund
    S o erreichte denn am Freitag beim Hereinbrechen der Nacht – es war der letzte Tag des Jahres – der Kommissär, die Beine hochgebettet, im Wagen die Stadt Zürich. Hungertobel fuhr selbst, und dies, weil er sich um den Freund Sorgen machte, noch vorsichtiger als gewöhnlich. Die Stadt leuchtete gewaltig in ihren Lichtkaskaden auf. Hungertobel geriet in dichte Wagenschwärme, die von allen Seiten in diese Lichtfülle hineinglitten, sich in die Nebengassen verteilten und ihre Eingeweide öffneten, aus denen es nun herausquoll, Männer, Weiber, alle gierig auf diese Nacht, auf dieses Ende des Jahres, alle bereit, ein neues anzufangen und weiterzuleben. Der Alte saß unbeweglich hinten im Wagen, verloren in der Dunkelheit des kleinen gewölbten Raumes. Er bat Hungertobel, nicht den direktesten Weg zu nehmen. Er schaute lauernd in das unermüdliche Treiben. Die Stadt Zürich war ihm sonst nicht recht sympathisch, vierhunderttausend Schweizer auf einem Fleck fand er etwas übertrieben; die Bahnhofstraße, durch die sie jetzt fuhren, haßte er, doch bei dieser geheimnisvollen Fahrt nach einem ungewissen und drohenden Ziel – (bei dieser Fahrt nach der Realität, wie er zu Hungertobel sagte) – faszinierte ihn die Stadt. Aus dem schwarzen, glanzlosen Himmel herab fing es an zu regnen, dann zu schneien, um endlich wieder zu regnen, silberne Fäden in den Lichtern. Menschen, Menschen! Immer neue Massen wälzten sich auf beiden Seiten der Straße dahin, hinter den Vorhängen von Schnee und Regen. Die Trams waren überfüllt, schemenhaft leuchteten hinter den Scheiben Gesichter auf, Hände, die Zeitungen umklammerten, alles phantastisch im silbernen Licht, vorüberziehend, versinkend. Zum erstenmal seit seiner Krankheit kam sich Bärlach als einer vor, dessen Zeit vorbei war, der die Schlacht mit dem Tode, diese unabänderliche Schlacht verloren hatte. Der Grund, der ihn unwiderstehlich nach Zürich trieb, dieser mit zäher Energie ausgebaute und doch wieder nur zufällig in den müden Wellen der Krankheit zusammengeträumte Verdacht, schien ihm nichtig und wertlos; was sollte man sich noch abmühen, wozu, weshalb? Er sehnte sich nach einem Zurücksinken, nach endlosem, traumlosem Schlaf. Hungertobel fluchte innerlich, er spürte die Resignation des Alten hinter sich und machte sich Vorwürfe, dem Abenteuer nicht Einhalt geboten zu haben. Die unbestimmte nächtliche Fläche des Sees flutete ihnen entgegen, der Wagen glitt langsam über die Brücke. Ein Verkehrspolizist tauchte auf, ein Automat, der mechanisch die Arme und Beine bewegte. Bärlach dachte flüchtig an Fortschig (an den unseligen Fortschig, der jetzt in Bern, in einer schmutzigen Dachkammer, mit fiebriger Hand das Pamphlet schrieb), dann verlor er auch diesen Halt. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Die Müdigkeit wurde gespenstischer, gewaltiger in ihm.
    «Man stirbt», dachte er; «einmal stirbt man, in einem Jahr, wie die Städte, die Völker und die Kontinente einmal sterben. Krepieren», dachte er, «dies ist das Wort: krepieren – und die Erde wird sich immer noch um die Sonne drehen, in der immer gleichen unmerklich schwankenden Bahn, stur und unerbittlich, in rasendem und doch so stillem Lauf, immerzu, immerzu. Was liegt daran, ob diese Stadt hier lebt oder ob die graue, wäßrige, leblose Fläche alles zudeckt, die Häuser, die Türme, die Lichter, die Menschen – waren es die bleiernen Wogen des Toten Meeres, die ich durch die Dunkelheit von Regen und Schnee schwimmen sah, als wir über die Brücke fuhren?»
    Ihm wurde kalt. Die Kälte des Weltalls, diese nur von ferne erahnte, große, steinige Kälte senkte sich auf ihn; die flüchtige Spur eine Sekunde lang, eine Ewigkeit lang.
    Er öffnete die Augen und starrte aufs neue hinaus. Das Schauspielhaus tauchte auf, verschwand. Der Alte sah vorne seinen Freund; die Ruhe des Arztes, diese gütige Ruhe tat ihm wohl (er ahnte nicht dessen Unbehagen). Vom Anhauch des Nichts gestreift, wurde er wieder wach und tapfer. Bei der Universität bogen sie nach rechts, die Straße stieg, wurde dunkler, eine Kurve schloß sich an die andere, der Alte ließ sich treiben, hell, aufmerksam, unerschütterlich.

Der Zwerg
    H

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