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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Bärlach. «Ich will, daß Sie mich ohne sein Dabeisein untersuchen.»
    Der Arzt schob seine Brille in die Höhe. «Ich glaube, daß wir zu Doktor Hungertobel doch wohl Vertrauen haben können.»
    «Gewiß», antwortete Bärlach.
    «Sie sind krank», fuhr Emmenberger fort, «die Operation war gefährlich und gelingt nicht immer. Hungertobel sagte mir, daß Sie sich darüber im klaren sind. Das ist gut. Wir Ärzte brauchen mutige Patienten, denen wir die Wahrheit sagen dürfen. Ich hätte die Anwesenheit Hungertobels bei der Untersuchung begrüßt, und es tut mir leid, daß Hungertobel Ihrem Wunsche nachgekommen ist. Wir müssen als Mediziner Zusammenarbeiten, das ist eine Forderung der Wissenschaft.»
    Das könne er als Kollege gut verstehen, antwortete der Kommissär.
    Emmenberger wunderte sich. Was er denn damit meine, fragte er. Seines Wissens sei Herr Kramer kein Arzt.
    «Das ist einfach», lachte der Alte. «Sie spüren Krankheiten auf und ich Kriegsverbrecher.»
    Emmenberger steckte sich eine neue Zigarette in Brand. «Für einen Privatmann wohl eine nicht ganz ungefährliche Beschäftigung», sagte er gelassen.
    «Eben», antwortete Bärlach, «und nun bin ich mitten im Suchen krank geworden und zu Ihnen gekommen. Das nenne ich Pech, hier auf dem Sonnenstein zu liegen; oder ist es ein Glück?»
    Über den Krankheitsverlauf könne er noch keine Prognose stellen, antwortete Emmenberger. Hungertobel scheine nicht gerade zuversichtlich zu sein.
    «Sie haben mich ja auch noch nicht untersucht», sagte der Alte. «Und dies ist auch der Grund, warum ich unseren braven Hungertobel nicht bei der Untersuchung haben wollte. Wir müssen unvoreingenommen sein, wenn wir in einem Fall weiterkommen wollen. Und weiterkommen wollen wir nun einmal, Sie und ich, denke ich. Es gibt nichts Schlimmeres, als sich von einem Verbrecher oder auch von einer Krankheit eine Vorstellung zu machen, bevor man den Verdächtigen in seiner Umgebung studiert und seine Gewohnheiten untersucht hat.»
    Da habe er recht, entgegnete der Arzt. Obgleich er als Mediziner nichts von Kriminalistik verstehe, leuchte ihm das ein. Nun, er hoffe, daß sich Herr Kramer auf dem Sonnenstein etwas von seinem Beruf werde erholen können.
    Dann zündete er sich eine dritte Zigarette an und meinte: «Ich denke, daß die Kriegsverbrecher sie hier in Ruhe lassen.»
    Emmenbergers Antwort machte den Alten einen Augenblick mißtrauisch. «Wer verhört wen?» dachte er und schaute in Emmenbergers Gesicht, in dieses im Licht der einzigen Lampe maskenhafte Antlitz mit den blitzenden Brillengläsern, hinter denen die Augen übergroß und spöttisch schienen.
    «Lieber Doktor», sagte er, «Sie werden auch nicht behaupten, in einem bestimmten Lande gebe es keinen Krebs.»
    «Das soll doch nicht etwa heißen, daß es in der Schweiz Kriegsverbrecher gebe!» lachte Emmenberger belustigt.
    Der Alte sah den Arzt prüfend an. «Was in Deutschland geschah, geschieht in jedem Land, wenn gewisse Bedingungen eintreten. Diese Bedingungen mögen verschieden sein. Kein Mensch, kein Volk ist eine Ausnahme. Von einem Juden, Doktor Emmenberger, den man in einem Konzentrationslager ohne Narkose operierte, hörte ich, es gebe nur einen Unterschied bei den Menschen: den zwischen den Peinigern und den Gepeinigten. Ich glaube jedoch, es gibt auch den Unterschied zwischen den Versuchten und den Verschonten. Da gehören denn wir Schweizer, Sie und ich, zu den Verschonten, was eine Gnade ist und kein Fehler, wie viele sagen; denn wir sollen ja auch beten: ‹Führe uns nicht in Versuchung). So bin ich denn in die Schweiz gekommen, nicht um Kriegsverbrecher im allgemeinen zu suchen, sondern um einen Kriegsverbrecher aufzuspüren, von dem ich freilich nicht viel mehr denn ein undeutliches Bild kenne. Aber nun bin ich krank, Doktor Emmenberger, und die Jagd ist über Nacht zusammengebrochen, so daß der Verfolgte noch nicht einmal weiß, wie sehr ich ihm auf der Spur war. Ein jämmerliches Schauspiel.»
    Dann habe er freilich kaum eine Chance mehr, den Gesuchten zu finden, antwortete der Arzt gleichgültig und blies den Zigarettenrauch von sich, der über des Alten Haupt einen feinen, milchig aufleuchtenden Ring bildete. Bärlach sah, wie er der Ärztin mit den Augen ein Zeichen gab, die ihm nun eine Injektionsspritze reichte. Emmenberger verschwand für einen Augenblick im Dunkel des Saales, dann, als er wieder sichtbar wurde, hatte er eine Tube bei sich.
    «Ihre Chancen sind gering», sagte er aufs

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