Der vergessene Strand
bleiben? Unvorstellbar. Sie brauchte Freiräume, sie wollte etwas aus eigener Kraft schaffen. Michael fand das in Ordnung. Er fand auch, sie sollte keinen neuen Job anfangen, weil sie jetzt doch eine Familie gründen wollten.
Sie war 33 . In diesem Alter dachte man nun mal darüber nach, eine Familie zu gründen. Und Michael hatte das immer gewollt. Ruth, die hatte das nie gewollt, und daran war seine Ehe letztlich auch gescheitert.
Aber jetzt hielt sie etwas in den Händen, das sie an seiner Version der Geschichte zweifeln ließ. Das sie in Gedanken zurückgehen ließ – ein Jahr, zwei Jahre, mehr als ein Jahrzehnt, bis zu jenem ersten Morgen im Hörsaal, als er vorn am Sprechpult stand und die neuen Studenten begrüßte. Und sie erfasste jedes seiner Worte, jeden Blick, jeden Kuss neu. Jede Beteuerung, jedes Wort, jegliche Umarmung verloren an Kraft, wenn sie auf den Brief schaute. Wenn sie die Worte las, wieder und wieder, dann wusste sie nicht, ob sie schreien oder weinen sollte.
Sie hatte gedacht, dieses Gespenst hätten sie gebannt. Keine Beziehung verlief geradlinig. Es gab immer Höhen und Tiefen, und vor vier Monaten hatten sie ein sehr tiefes Tal durchschreiten müssen. Sie hatte gedacht, das sei jetzt endlich vorbei.
War es aber nicht.
Warum konnte das Gespenst sie nicht einfach in Ruhe lassen?!
Michael kam nicht um acht heim, sondern erst um halb elf. Sie hatte Reis gekocht und ihn warmgehalten, das Frikassee hatte sie im Crockpot gelassen. Ihr war der Hunger vergangen, und das Essen war heillos verkocht.
Sie hatte auch Wäsche gewaschen an diesem Tag, der ihr elend lang vorgekommen war, hatte die Wäsche im Garten an der Wäschespinne getrocknet und danach sogar zusammengefaltet und weggeräumt. Sie hatte die Bücher rund um ihren Schreibtisch sortiert, die Unterlagen abgeheftet und eine E-Mail an ihre Lektorin beim Verlag geschickt, dass sie sich bei ihr melden würde. Wenn sie zurück wäre.
«Amelie?» Sie hörte ihn durch die Zimmer gehen. Wohnzimmer, Esszimmer, Bibliothek. Er klopfte an die Tür ihres Arbeitszimmers. «Hier bist du.»
«Das Essen ist schon fertig. Du bist etwas zu spät, ich hoffe, es schmeckt noch.»
Er zuckte mit den Schultern. «Du weißt ja, wie das ist.»
Nein, weiß ich nicht.
Sie stand auf und streckte sich. Michael trat zu ihr und küsste sie auf den Mund. «Hallo», sagte er leise.
«Hallo.» Sie drehte den Kopf weg. Sie schob sich an ihm vorbei und ging voran in die Küche. «Und? Erfolg gehabt?»
Er folgte ihr, lehnte entspannt in der Küchentür, während sie ihm das Essen auf einen Teller schaufelte, ein Glas Apfelschorle eingoss, den Tisch für ihn deckte.
«Was? Ja, doch. Mein Etat ist gesichert.» Dann, als fiele ihm gerade erst etwas ein: «Ich hab noch was für dich.»
Sie setzte sich neben seinen Platz und wartete. Das Frikassee dampfte, und jetzt hatte sie eigentlich doch Hunger. Aber sie hatte sich geschworen, keinen zu haben.
«Hier, schau mal.» Er legte zwei fast buchdicke Zeitschriften vor sie. Glückliche Bräute auf dem Cover, wunderschöne Kleider und Blumen. «Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.»
Er setzte sich und begann zu essen. Schweigend. Er hatte alles gesagt. Jetzt war keine Zeit zum Reden, jetzt wurde gegessen. Sie hatte all seine Schrullen bisher so liebenswert gefunden, doch jetzt zerrte alles nur an ihr, und es störte sie.
«Hast du schon gegessen?», fragte er mit Blick auf seinen Teller, und sie nickte abwesend, während sie flüchtig durch die Hochzeitsmagazine blätterte.
Heiraten. Ja, das hatten sie sich vorgenommen für diesen Herbst. Im September, wenn es nicht mehr so heiß war, so hatte es Michael vorgeschlagen. Auf Knien hatte er sie angefleht, ihn zu heiraten, und sie hatte in dem Moment alle unguten Gefühle beiseitegeschoben und Ja gesagt. Weil man eine Beziehung nicht einfach wegwarf.
Im September konnte man zwar Pech mit dem Wetter haben, aber das galt genauso für den Mai oder den Juni, hatte Michael argumentiert. Er trieb die Hochzeitsplanungen voran. Sie tat nichts, sie wartete nur ab, weil seit der Sache mit der anderen Frau in ihr etwas erstarrt war.
Und jetzt das hier.
«Warte mal.»
Er legte die Gabel beiseite, beugte sich zu ihr herüber und blätterte ein paar Seiten zurück. «Das ist doch hübsch, nicht?» Sein Finger tippte auf ein Bild.
Es war tatsächlich ein schönes Kleid. Luftig, zart, mit kleinen Puffärmeln und aus cremefarbener Seide. Ein weit ausgestellter Rock, ein
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