Der vergessene Strand
zu tun, als ihn anzuhimmeln.
Während des Studiums begegneten sie sich immer wieder. Sie belegte Seminare bei ihm, ihr Schwerpunkt verschob sich. Hatte sie sich ursprünglich vor allem für das Mittelalter und die Antike interessiert, verbiss sie sich nun in neuzeitliche Themen. Er betreute ihre Bachelorarbeit, und als sie sich zum Masterstudiengang einschrieb, bot er ihr eine Stelle als studentische Hilfskraft an. Sie zögerte nicht, denn gegen ihre anfängliche Schwärmerei hatte sie erfolgreich angekämpft. Der ihr dabei geholfen hatte, hieß Tobias. Sie waren glücklich.
Zwei Jahre später vermittelte Michael ihr einen Betreuer für ihre Masterarbeit. Sie verbrachte ganze Nächte in der Unibibliothek, und er lief ihr immer wieder über den Weg. Angeblich musste er auch arbeiten. Sie tranken oft Kaffee zusammen und saßen in der Eingangshalle der Bibliothek. Sie genoss diese Nachtstunden. Und eines Nachts fiel ihr auf, dass der Ehering verschwunden war.
Da erwachte das Kribbeln wieder, das sie so lange ignoriert hatte. Sie schämte sich deswegen. Aber Michael war immer da, er erwies sich als der ideale Diskussionspartner für ihre Masterarbeit. Sie wollte das nicht aufgeben. Zugleich fürchtete sie sich ein wenig vor den Gefühlen, die sie entwickelte.
Dass sie nicht die Einzige war, für die Gefühle im Spiel waren, machte Michael ihr eines Abends sehr deutlich. Sie hatte gerade erst angefangen zu arbeiten, eine Flasche Wasser, ihr altersschwaches, lautstark surrendes Notebook und einen Stapel Bücher für die Nacht auf den Arbeitstisch gestellt. Gerade wollte sie mit einem Buch zum Kopierer gehen, weil sie dieses Exemplar nicht ausleihen durfte, als er kam. Er betrat die Bibliothek ganz leise, aber das Lächeln, das sein Gesicht erhellte, als er sie entdeckte, war so laut und überwältigend, dass sie das Buch fallen ließ.
«Ich habe uns was mitgebracht», verkündete er und stellte eine kleine Kühltasche auf den Tisch. «Für deinen Mitternachtshunger.»
Und er brachte ihr Sandwichs mit Pastrami oder Bagel mit Lachs und Frischkäse.
Aber das war es nicht, was alles veränderte. Es waren dieser Blick und sein Lächeln, als sie sich bückte und das Buch aufhob. «Du bist so schön», sagte er. «Wunderschön.»
Sie wollte sich dagegen wehren – Tobias! Tobias!, dachte sie die ganze Zeit –, aber Widerstand war zwecklos. Er trat ganz dicht an sie heran.
«Wenn ich dich jetzt küsse, was wirst du tun?»
«Dann schrei ich», flüsterte sie zurück.
Er lachte. «Du kennst doch die Regeln für die Bibliothek?» Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. «Pssst!», machte er.
Und dann küsste er sie. Einfach so, mitten in der Bibliothek, in der zu dieser Uhrzeit noch so viel los war, dass am nächsten Tag das ganze Institut Bescheid wusste.
Es war ihr egal. Michael betreute nicht ihre Masterarbeit, und ihr Vertrag als Hilfskraft lief im selben Monat aus. Er erzählte ihr erst danach von dem hässlichen Rosenkrieg mit seiner Frau Ruth. Dass er ihr alles geben würde, damit sie ihn endlich in Ruhe ließ. Dass er sich nach Familie sehnte, sie aber nie auch nur ansatzweise den Wunsch verspürt hatte, Kinder zu bekommen, weil ihr die Arbeit bei einer Großbank ausreichte.
Es dauerte noch einmal drei Monate, ehe Amelie sich für ihn entschied. So hatte sie es nicht gewollt, und gerechnet hatte sie auch nicht damit. Immer hatte sie geglaubt, es werde eines Tages mit Tobias oder einem anderen Mann in ihrem Alter weitergehen. Dass der Mann, den sie nun liebte, fünfzehn Jahre älter war als sie, verwirrte sie. Es dauerte ein halbes Jahr, bis sie ihn ihrer Mutter vorstellte. Susel und Michael verstanden sich prächtig. So groß war der Altersunterschied zwischen ihnen ja auch nicht.
Nach ihrem erfolgreichen Abschluss schien es in seinen Augen für Amelie nur einen Weg zu geben: weiterhin an der Universität zu bleiben und ihre Promotion voranzutreiben. Sie ließ sich darauf ein. Drei Jahre blieb sie dem Unibetrieb treu, gab Kurse und schrieb an ihrer Doktorarbeit über die Außendarstellung von Augustus’ Frau Livia durch die zeitgenössischen Geschichtsschreiber – sie hatte zurückgefunden zur Antike. Als wollte sie sich von Michael emanzipieren, der inzwischen ihr ganzes Leben beherrschte. Als müsste sie sich in dieser Liebe einen Platz erkämpfen, der nur ihr gehörte.
Und nun war sie seit acht Monaten nicht mehr an der Uni. Lange hatte sie darüber nachgedacht, was sie danach tun wollte. Dort
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