Der vergessene Strand
versenken. Ihr Bruder kreischte vor Vergnügen. Er kannte keine Angst. Was er sich traute, wollte Amy auch immer wagen, weil es bei ihm so schön einfach aussah.
Die Wolkenberge zogen vom Meer herauf zum Strand. Der Wind toste, und Paddick drehte sich wild im Kreis, er schrie und brüllte gegen das Tosen an. Amy hielt sich die Ohren zu. Für sie war das alles zu viel. Sie kehrte um und rannte zurück zum Haus. Ihre Angst war zu groß. Paddicks Mut kam dagegen nicht an.
Mama kam ihr entgegen. «Wo ist dein Bruder?», schrie sie gegen das Donnergrollen an, und Amy zeigte zum Strand. Ihre Mutter schickte sie ins Haus und lief los. Amy stürmte in die Küche. Dort stand lässig Onkel Reggie und musterte sie, als wüsste er Dinge über sie, die seine Waffe waren ab jetzt. Dabei war sie es, die etwas über ihn erfahren hatte. Dass er nämlich Mama so lieb hatte wie Daddy.
Ob Daddy das wusste? Ob es ihm gefiel?
Vielleicht würde sie ihn fragen, wenn er am Wochenende nach Hause kam.
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Kapitel 28
A melie fuhr aus dem Traum hoch. Sie war schweißgebadet, und ihr Herz hämmerte in der Brust. Blind tastete sie nach dem Kissen neben sich, das leer und kühl war.
In der Ferne grollte ein Donner. Das erlösende Gewitter kam.
Sie blieb liegen und wartete. Diese Träume von der Vergangenheit – war das alles wirklich so passiert? Sie könnte ihre Mutter anrufen und fragen. Sonst gab es vermutlich niemanden mehr, der die Wahrheit kannte.
Im Haus waren Stimmen zu hören. Diana hörte sie heraus, ein helles, klares Lachen, das Amelie von ihr nicht gewohnt war. Dazu die dunkle, gedehnte Stimme von Emmett. Wieder lachte Diana. Dieser Mann tat ihr gut, und Amelie war froh darüber.
Vielleicht war dies der Sommer, in dem sie beide ankamen, irgendwie. In dem sie herausfanden, was sie wirklich wollten und brauchten, um glücklich zu sein. Amelie hatte ihre Bücher, sie hatte ein Dach über dem Kopf, und sie würde schon irgendwie ein Auskommen haben. Vielleicht ergab sich eine weitere Zusammenarbeit mit ihrem Verlag, vielleicht fand sie einen anderen. Oder sie arbeitete als Journalistin. Die Möglichkeiten waren da, sie musste nur beherzt zugreifen.
Außerdem stand ihr noch eine ganz andere Aufgabe bevor, der sie sich mit ganzer Kraft würde widmen dürfen: ein Kind aufzuziehen. Mutter zu sein. Sie hatte immer gedacht, das müsse sie nicht allein tun. Und so war es ja auch: Sie hatte Dan, wenn sie ihn ließ, und Michael war in der Ferne für sie da. Sie hatte nicht das Gefühl, dass er ihr wegen der getroffenen Entscheidung grollte.
Vor dem Abschied hatte sie ihn gefragt, ob er jetzt mit Sabina zusammenleben wollte. Damals hatte er ausweichend geantwortet, als wüsste er das nicht so genau. Sie vermutete, dass für die beiden der richtige Zeitpunkt verstrichen war.
Da hatte Amelie ihnen wohl im Weg gestanden. Ein bisschen tat ihr das sogar leid.
Und vielleicht bewies das mehr als alles andre, dass ihre Zeit mit Michael schon vor langem abgelaufen war.
Sie stand auf und verließ das Schlafzimmer. Von oben hörte sie ein verschwörerisches Flüstern und Kichern. Vermutlich eine Überraschung für Amelie, bunte Tapeten an den Wänden mit Bärchen und rosa Luftballons. Sie nahm sich fest vor, sich darüber angemessen zu freuen, selbst wenn es ihr nicht gefiele. Ihr Kind konnte später selbst entscheiden, wie es wohnen wollte. Bis dahin war es egal, ob es unter den Geschmacksverirrungen der selbsternannten Patentante oder der Mutter litt.
Auf der Bank vor dem Haus saß Dan. Einfach so, als gehöre er hierher.
Amelie setzte sich neben ihn. «Ich wusste nicht, dass du zurück bist.»
«Du hast geschlafen, sagte mir deine Freundin. Sie machte auf mich nicht den Eindruck, als dürfe man sich mit ihr anlegen. Da wollte ich lieber warten, bis du wach bist.»
Amelie lachte leise. «Dann hast du also Diana kennengelernt.»
«Die Göttin der Jagd? Wie passend. Hätte mich nicht gewundert, wenn sie mit Pfeil und Bogen auf mich losgegangen wäre.»
«Diana ist meine beste Freundin.» Amelie seufzte. «Nur leider verliere ich sie gerade an einen neuseeländischen Schafzüchter.»
«Freunde verlieren wir nicht, selbst wenn sie am anderen Ende der Welt sind.»
«Das sagst du so leicht dahin.»
«Die Familie verlieren wir genauso wenig.»
Amelie schwieg. Sie hatte zwar Jon und David hinzugewonnen, die für sie einer Familie schon recht nah kamen. Doch dafür schien sie ihre Mutter verloren zu haben, die nicht
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