Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
gingen mit ihren Eltern in den Wald – und das war’s. Weg waren sie, als habe der Wald sie einfach verschluckt. Aber eigentlich – ich meine, das geschah erst später. Noch vor Mahéren kam Herr Banavred von seinem Turm herab ins Dorf. Er gab mir einen Brief und wollte nicht viel sagen. Um die Gemüter nicht zu erregen, meinte er; andererseits fragte er herum, ob zufällig ein Landhüter im Ort sei. Er fand keinen, weil keiner da war, und dann machte er, dass er im Hellen zurück zu seinem Turm kam. Aber er sah besorgt aus, wirklich besorgt. Und warte … Richtig, die Woche darauf gingen Gatabaid und Ianam verloren, am Mittwochabend vor Mahéren. Ganz Rudenforst geriet in Aufruhr. Ich war gerade angekommen und erschöpft von meinem Ritt. Dennoch ging ich natürlich mit in den Wald, obwohl es längst dunkelte. Wir fanden nichts.«
Kuaslom beschrieb Finn im Folgenden ein wirres Durcheinander von Fackeln und Hundegebell, aufgeschreckten Uhus und nichtminder aufgeregtem, unaufhörlichem Rufen in jener Nacht in Rudenforst. Am nächsten Morgen war er frühzeitig aufgebrochen. Die Dinge schienen schlecht für die Kinder gestanden zu haben.
»Während ich meinen Postweg abritt«, sagte Kuaslom und tat, als huste er, obwohl es ein Räuspern voller Rührung war, »wurde die Suche fortgesetzt. Jemand mit einem bisschen mehr Verstand nahm sich der Sache an. Am vierten Tag fanden sie Ianam, halb verdurstet, aber immerhin lebend. Der Junge wusste kaum, wo er war; und auch nicht, was mit seiner Schwester geschehen war. Nach wie vor fehlte von ihr jede Spur. Wieder zwei Tage später, am Ventane-Abend, traf ich erneut in Rudenforst ein. Das Mädchen blieb verschwunden. Sie ist zweifellos tot, wenn du mich fragst. Heute wären es neun Tage und Nächte, die sie allein im Wald verbracht hätte. Ohne Essen, ohne Trinken, mit Sicherheit verletzt; denn sonst wäre Gatabaid von allein heimgekommen, nicht wahr? Da hast du’s. Das ist alles, mehr weiß ich nicht.«
Der altgediente Postler zückte sein Taschentuch, wischte sich das Gesicht und verfiel in ein bitteres Schweigen.
Finn seinerseits dachte beklommen an Banavreds Brief und an das eben Gehörte; und beim Gedanken an sein Ziel wurde ihm mulmiger zumute, als er sich selbst gegenüber eingestand. Um zum Acaeras Alamdil, Banavreds Turm, zu gelangen, würde er den Wald hinter Rudenforst in seiner ganzen Breite durchqueren müssen. Ein Wald, in dem Krallenspuren, gerissene Schafe und ein unauffindbares Mädchen warteten. Und Augen, die heimlich beobachteten.
Eine Wegstunde hinter Mechellinde traf die Mürmelstraße auf die Mittelstraße. Diese im rechten Winkel zu ihr verlaufende Verbindung begann im Norden als Verlängerung des Tennlén Alam, des Alten Weges , jenes verborgenen Bergpfades, über den die Vahits vor 697 Jahren gekommen waren. Die Straße durchlief fast das gesamte Hüggelland und führte bis hinunter zur Südlandstraße, mit der sie bei der Tanninger Brücke verschmolz.
Linker Hand erhob sich jetzt die Seebrücke: ein sowohl sehenswertes wie weithin schillerndes, ja unerhörtes Bauwerk, das die Mürmel schon überspannt hatte, als die Vahits einst zum ersten Mal hüggelländischen Boden betraten. Dorthin lenkte er nun den Wagen. Smod erkletterte langsam den breiten Brückendamm, auf dem mehrere Fuhrwerke nebeneinander Platz gefunden hätten. Die Brücke erhob sich in drei kühnen Bögen über den Fluss – eine Fläche aus schneeweißem Gestein, das niemals alterte. Oder falls doch, dann zumindest nicht in der Zeitspanne, seitdem die Vahits im Hüggelland lebten.
Obwohl die Vahits die Rundbögen der Seebrücke seit alters her instand hielten, hatten sie diese (und zwei weitere Brücken im Hüggelland) nicht von eigener Hand erbaut. Wobei Instandhaltung der Brücken im Wesentlichen bedeutete, dass die Vahits sie fegten. Das von den Baumeistern aus Benutcane verwendete Material war, obgleich es gewöhnlicher Stein zu sein schien, anders als alles, was die Vahits kannten. Es war fugenlos ineinandergesetzt und wirkte wie gegossen. Und der weiße Stein verwitterte nicht. Weder Wind noch Regen, weder Frost noch Hochwasser vermochten, ihm etwas anzuhaben. Moose und Flechten fanden keinen Halt, und die Steine behielten jahrein, jahraus ihre makellose weiße Farbe bei.
Lange bevor die Vahits ihre Große Wanderung fern im Osten Kolryns antraten, hatten offenbar Menschen des längst vergangenen Reiches von Benutcane hier gelebt; so jedenfalls hatte man es Finn
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