Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
liebe Güte!« Finn schlug sich an die Stirn. »Die Kinder! Ianam und Gatabaid. Die habe ich über deiner Beweisführung eben beinahe vergessen! Oder verdrängt, wie du sagen könntest.Kuaslom erzählte so einiges. Du bist demnach eigens ihretwegen hier?«
»Ja.« Mellow nickte ernst. »Und nein. Eigentlich habe ich Ferien und besuche meine Familie über die Feiertage. Aber Gesslo hat mich nur gehen lassen, wenn ich mich zugleich um die leidige Angelegenheit, wie er es nannte, kümmere.«
Auch das hatte Finn vergessen, obwohl ihm jetzt vieles von früher wieder einfiel: Mellow stammte hier aus Rudenforst; er war der dritte Sohn von Rorig Rohrsang, dem Wirt der Krummen Kiefer. Der alte Rorig hielt die Postrechte im Dorf und war, wenn man Mellow Glauben schenkte, ein vortrefflicher Brauer obendrein.
»Und du meinst ernsthaft, ich sollte heute nicht mehr weiterfahren?« Finn zögerte; er wäre wirklich gern geblieben, und nicht nur des Bieres wegen. Aber die Erinnerung an seine Schlamperei rührte an sein Pflichtgefühl. Sein schlechtes Gewissen rang mit dem gesunden Vahitverstand.
»Mir jedenfalls wäre bedeutend wohler dabei. Für dein Pony ist Platz genug im Stall, den Wagen schieben wir in die Scheune. Drinnen in der Gaststube gibt es warmes Essen und ein gemütliches Feuer, und ein Bett oben in der Kammer ist stets bereit.« Er schlug Finn auf die Schulter, griff in Smods Geschirr und führte das Pony von der Straße. »Wenn du jetzt noch weiterführest, Finn, würdest du Banavred womöglich zu Tode erschrecken. Du kämest in stockfinsterer Nacht an wie – na, wie ein ihn heimsuchender Baghul. Morgen ist auch noch ein Tag.«
So fand sich Finn an diesem Abend in der Schankstube der Krummen Kiefer wieder, satt und zufrieden und im Kreis der Rohrsangs, die allesamt vor dem Kamin saßen, ebenso Kuaslom Pfuhlig. Der junge Vahit und der Postler schmauchten ein Verdauungspfeifchen nach dem vorzüglichen Kürbis-Essen, das Mellows Mutter Dhela bereitet hatte. Der alte Rorig, Mellows Vater, war wirklich ein ausgezeichneter Brauer: Finn war schon bei seinem dritten Krug Krummangelangt. Mit jedem Schluck schmeckte das frisch gezapfte Bier nur noch süffiger. Smod stand abgerieben im Stall und tat sich am Hafer gütlich.
Ein paar Vahits aus dem Dorf hockten auf Bänken längs der anderen Tische und unterhielten sich. Noch immer war Gatabaids unbegreifliches Verschwinden der Hauptgesprächsgegenstand. Inzwischen gab es die haarsträubendsten Erklärungsversuche. Einer der Rudenforster sprach allen Ernstes von einer tief im Wald verborgenen Höhle, in der ein Schatz der Benutcaerdirin versteckt sei. Niemand kenne heutzutage noch die genaue Lage dieser Höhle, sagte er, aber dass es sie gebe, sei ja wohl gewiss. Gatabaid sei womöglich in diese Höhle hineingeraten und in den Bann eines Gespenstes geraten, das den Schatz bewache. »Es ist der Baghul des letzten Königs der Steinleute, wenn ich es euch doch sage!«, vernahm Finn, der mit halbem Ohr zugehört hatte; und er dachte sich sein Teil. Die Menschen Benutcaers hatten, soweit er sich an seine Geschichtsstunden beim alten Herrn Ludowig Gurler noch erinnerte, niemals einen König gekannt.
Da nun die Zeit zum Reden gekommen war, hielt Finn sich nicht länger zurück. »Jetzt erzählt mir endlich, was angeblich mit eurem Wald los ist.« Er nahm einen Schluck Krumm und wischte sich den Schaum von den Lippen.
»Tja«, ergriff Rorig bedächtig das Wort, »das ist mit uns so eine Sache, Herr Finn. Wir Rudenforster hier, wir leben im und vom Wald, könnte man sagen. Wir sind sozusagen gut Freund mit ihm. Was wir an Holz schlagen, forsten wir wieder auf. Wir achten auf kranke Bäume und solche Dinge. Wir haben in all den Jahren ein Gespür für den Wald entwickelt, wenn du verstehst, was ich meine. Und jetzt hat sich etwas verändert! Du kannst es fühlen, auch wenn wir keine Beweise dafür haben, wie Mellow hier es nennt.«
»Aber was hat sich denn verändert?«, wollte Finn wissen.
»Es ist nichts, was du sehen kannst, Herr Finn«, warf Sahaso ein. Er war Rorigs ältester Sohn und besaß Fäuste wie ein Schmied. Seinem Vater sah er ähnlicher als seine beiden Brüder. »Oder was du anfassen könntest.« Er schwang seine Hände und zeigte, waser damit meinte. »Ich bin gewiss kein zaghafter Vahit, ich fürchte mich so schnell vor nichts, das kannst du mir glauben. Aber seit einiger Zeit fröstele sogar ich, wenn es draußen dunkel wird und ich nicht rechtzeitig aus dem
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