Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
Wald zurück bin. Manchmal denke ich, die Bäume hätten Kenntnis von etwas. Sie sind sehr ergrimmt darüber.«
»Es lässt sich schwer beschreiben«, stimmte Kampo zu. Er war Mellows zweitältester Bruder. Auch seine Hände waren schwielig vom Gebrauch von Säge und Axt. Wenn er lächelte, verwandelten sich seine Züge in die seiner Mutter. »Der Wald ist unruhig geworden. Ein Ahnen von Furcht und ohnmächtiger Wut erfüllt ihn. Und noch etwas anderes ist des nachts da draußen. Es ist, als würden dich Augen beobachten; ja, Augen, die nichts Gutes im Schilde führen, wenn du mich fragst. Und im Nachtwind sind Stimmen, die miteinander flüstern. Das wird dir jeder hier erzählen, mein Wort drauf!«, fügte er bedeutsam hinzu.
»Is’ alles meine Rede«, brummte Kuaslom. »Und es wird schlimmer. Diese … Augen … beobachten einen nicht nur in eurem Wald. Ich hab sie schon mehrfach weit südlicher auf mir ruhen gefühlt. Wenn ruhen das ist, was sie mit einem machen. Erst heute wieder ist’s passiert. In Lammspring. Fragt Herrn Finn; er hat es auch gespürt.«
Finn nickte. »Es war unheimlich, das will ich zugeben. Aber ich weiß nicht, ob es jemand war oder etwas. Oder ob wir uns es nur eingebildet haben.«
»Eingebildet?« Kuaslom klopfte seine Pfeife aus. »Kann ein Pony sich etwas einbilden? Nein. Smod ist gelaufen, was er nur konnte! Er wird es auch gespürt haben. Das ist es.«
»Jedenfalls hast du gut daran getan, hier bei uns zu bleiben, Herr Finn«, sagte Dhela Rohrsang ernst. »Die stockfinsterste Nacht hätte dich eingeholt. Wir haben Neumond, falls du es vergessen hast.«
»Na, da hast du’s«, meinte Mellow, zwinkerte zu Kuaslom hinüber und prostete Finn zu.
»Ich glaub’s euch ja.« Finn dachte an Banavreds Brief und hobnachdenklich seinen Krug. »Aber etwas ganz anderes geht mir gleichfalls noch im Sinn herum. Verrate mir bitte, Mellow, wieso dienst du eigentlich unter Gauvogt Gesslo im Obergau? Ich meine mich zu erinnern, du wärst in den Hintergau nach Vahindema gegangen …«
Mellow winkte ab. »Ein neuer Einfall von Wredian Gimpel, unserem allseits geschätzten Vahogathmáhir. Er sagt, er wolle alle Landhüter reihum in allen Gauen dienen lassen. Um Land und Leute auf Weg und Schritt zu kennen. Neue Eindrücke sammeln, so nannte er es. Alle halbe Jahre wechseln wir jetzt deshalb die Vogte wie die Hemden.« Er verdrehte die Augen. »Jedenfalls, es stimmte was mit einer Namensliste nicht, glaube ich. Anstatt mich in Vahindema zu belassen, weil ich nun schon mal da war, schickten sie mich zurück nach Mechellinde. Um neue Eindrücke zu sammeln!«
Er lachte, schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Zug. »Von mir aus. Ich beklage mich nicht. Grundsätzlich ist es eine gute Idee, denke ich. Und Herrn Wredian verdanke ich letzten Endes immerhin, heute in Rudenforst bei euch sein zu können und dich getroffen zu haben.« Laut klackten Finns und Mellows Krüge aneinander.
»Ein Hoch auf Herrn Gimpel, unseren Vahogathmáhir!«, rief Rorig, und alle am Tisch hoben ihre Krüge.
»Erzählt mir mehr von den Kindern, die verschwunden sind«, sagte Finn ein Weilchen später. »Ich hörte, Giunda Blässner sei die Mutter.«
Mellow nickte. »Ja, die Frau von Gandh. Das ist eine richtig schlimme Angelegenheit. Die Nachricht von ihrem Verlust kam vor sieben Tagen mit einem Boten zu uns – Herr Gesslo wollte es kaum glauben und hielt das Ganze zunächst für ein Missverständnis oder gar für einen groben Scherz. Dennoch ließ er sich genau berichten, was geschehen war. Ianam und Gatabaid waren mit ihrem Vater bei der Arbeit. Er schickte sie zum Bruchholzsammeln für den eigenen Herd, und sie entfernten sich und taten, was ihnen aufgetragen war. Als er sie rief, kam keine Antwort. Es dunkelte, alser immer noch im Walde war und nach ihnen suchte. Verzweifelt eilte er endlich nach Rudenforst zurück und rief um Hilfe.«
»Das hätte er früher tun sollen«, warf Mellows Mutter Dhela ein.
»Vielleicht«, meinte Kampo. »Aber hätte er das letzte Licht des Tages ungenutzt verstreichen lassen sollen?«
»Jedenfalls kam Gandh ins Dorf gerannt an jenem Mittwochabend«, sagte Sahaso. »Wir holten Lampen und Fackeln, gaben die Hunde frei und liefen allesamt in den Wald zurück. Wir suchten und riefen viele Stunden lang, immer wieder, bis wir heiser waren; doch die Kinder blieben unauffindbar. Irgendwann gingen wir heim, mutlos und voller böser Ahnungen.«
»Als der Tag dämmerte,« sagte Kampo,
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