Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
freuen, Finn. Und dann stell dir die Benutcaerdirin vor, wie sie vor ihren Feinden fliehen, durch den Brunnenschacht, den Tunnel, die gewundenen Gänge bis hierher, in diese Höhle, und sie ist voll von wildem Getier. Keine angenehme Vorstellung, mitten in eine hungrige Bärenfamilie hineinzuplatzen, nur um ein Beispiel zu nennen.«
Finn sah seinen Freund ungläubig an. »Wo nimmst du das alles eigentlich her? Ich denke, du hast in Ludowigs Stunden geschlafen?«
»Habe ich auch. Und was unser guter Witamáhir uns eintrichterte, war wenig genug – zumindest war es weniger hilfreich als du annimmst. Es ist allein eine Frage des Nachdenkens, und hierin habe ich einiges von Herrn Gesslo gelernt. Wo war ich? Ach ja, bei den Bären. Die ohne den Spalt die ganz Höhle für sich beanspruchen würden. So weit klar?«
Finn nickte.
»Also schön. Nun, wenn ich so weit denken kann, dann dachten die Herren des Turms gewiss ebenso weit. Sie waren ja Leute mit Verstand.« Mellow begann, am Rand des Spaltes auf und ab zu gehen. »Nein, nein, ich sage dir, Finn: Dieser Abgrund war ein Geschenk für die Benutcaerdirin, wenn er überhaupt natürlich ist und sie ihn sich nicht selbst in den Fels geschnitten haben. Von hier aus konnten sie sehen, ob der Höhlenausgang frei war. Ein paar Bogenschützen hätten jedes Tier geschwind vertrieben, und dann sind sie gemächlich über den Spalt marschiert und verdrückten sich in den Wäldern.«
»Einfach so, nehme ich an?« In Finns Stimme schwang arger Zweifel mit. »Marschierten gemächlich über die unsichtbare Brücke. Und lachten sich ins Fäustchen, oder wie? Entschuldige, Mellow, aber du bist nicht mehr ganz bei Trost.«
»Acalhate konnte das«, warf Gatabaid ein und sah kurz von ihren Steinchen auf. »Sie musste es sich nur ganz doll wünschen.«
»Ich geb’s auf«, sagte Finn. »Acalhate ist ohnehin nur was für Mellow. Er ist der bessere Wünscher von uns beiden.«
»Endlich siehst du’s ein.«
Mellow machte das, was er ein pfiffiges Gesicht nannte. »Mal im Ernst: Es muss hier einen Übergang geben. Und wenn ich an die Benutcaerdirin denke, dann denke ich immerzu an Stein und nicht an Holz. Eine hölzerne Brücke hätte verbrennen, verfaulen, zernagt werden können, was weiß ich. Viel zu unsicher. Es würde mich nicht wundern, wenn sich auch hier Verstand und Haltbarkeit träfen.«
»Na schön«, wandte Finn ein. »Aber wie willst du deine unsichtbare Brücke finden?«
»Mit Köpfchen«, erwiderte Mellow. »Und ein wenig auch mit meinen Händen. Nur dass ich meinen Kopf nicht in den Spalt zu rollen gedenke, wie ein gewisser Jemand kürzlich vorgeschlagen hat. Bleib bitte vom Abgrund weg, Gatabaid. Finn und ich untersuchen jetzt den Spalt.«
In der folgenden halben Stunde tasteten sie den hiesigen Rand von der linken bis zur rechten Seite ab, obwohl Finn zu keinem Moment an eine unsichtbare Brücke glaubte. Aber was Mellow über die alten Baumeister gesagt hatte, das klang, bis auf das Wörtchen unsichtbar , nicht völlig und ganz und gar verschroben, und vor allem hatte er nichts Besseres anzubieten. Doch nachdem sie einmal auf ihren Knien durch die gesamte Breite der Höhle gerutscht waren, richtete er sich auf und streckte seinen schmerzenden Rücken.
»Sei mir nicht böse, Mellow, aber hier ist keine unsichtbare Brücke.«
»Leider hast du Recht«, musste dieser zugeben. »Aber was ist, wenn es sich nicht um eine unsichtbare, sondern um eine gut verborgene Brücke handelt?«
»Wie meinst du das?«, fragte Finn, und er wusste nicht, ob er entgeistert sein oder Mellows Unverzagtheit bewundern sollte.
»Verstand und Haltbarkeit, Finn«, murmelte er. »Verstecken undTurmstein, ihre beiden bewährten Mittel. Wenn wir nichts sehen können, obwohl wir etwas sehen müssten, weil etwas da sein muss, dann eben deshalb, weil sie die Brücke – und ich wette, sie ist aus Caeraban! – nur besonders gut versteckt haben.«
Finn hob abwehrend die Hände. »Entschuldige, aber ich kann dir nicht mehr folgen.«
»Aber es liegt doch auf der Hand«, ereiferte sich Mellow. »Und wo haben sie sie versteckt? Auf der gegenüberliegenden Seite gewiss nicht, denn sie kamen wie wir auf dieser Seite ans Tageslicht. Folglich muss die Brücke auf der hiesigen Seite sein.«
Er ging zu Gandhs Tochter zurück und kniete sich neben sie. »Hilf mir, Gatabaid. Du bist doch ebenso hübsch wie klug. Verrate mir: Wie versteckt man eine steinerne Brücke?«
Das Mädchen blickte auf und
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