Der vergessene Turm: Roman (German Edition)
sah sich mit großen Augen um. »Ich weiß nicht«, sagte sie. Wieder kniff sie die Stirn zusammen und überlegte angestrengt. »Aber«, fügte sie hinzu, »ich habe einmal meinen Lieblingskürbis vor meinem Bruder versteckt. Und das Beste, was mir eingefallen ist, war, ihn zwischen den anderen Kürbissen zu verstecken, die Mama verwahrte. Ianam hat ihn nie gefunden!« Sie lächelte verschmitzt, legte den Kopf schief, hob die Hände und sagte: »Jungs eben.«
Mellow sprang auf und rief: »Das ist es! Gatabaid, du bist die Größte. Sie haben sie im Gestein versteckt. Wo denn auch sonst?«
»Geht es dir noch gut?«, fragte Finn. »Wie kann man denn eine Brücke im Gestein verstecken?«
»Die Benutcaerdirin konnten es, verlass dich drauf. Und sie haben es getan – da verwette ich meinen Hut!«
»Den hast du schon verloren«, sagte Finn leise.
Mellow winkte ab und begab sich wieder an den Rand des Spaltes.
»Versteckt im Stein«, hörten sie ihn eine Weile vor sich hin brummen. »Es liegt auf der Hand. Versteckt im Stein. Mellow, denk gefälligst nach.«
Der junge Hüter setzte sich auf einen Felsklotz und stützte dasKinn in beide Hände. Er gab weiteres Gebrummel von sich, aber es war nicht mehr zu verstehen.
»Wenn wir wenigstens das Seil noch hätten«, warf Finn ein. »Wir könnten es um den Dorn dort vorn binden und uns in die Tiefe lassen.«
»Ein Dorn?«, fragte Mellow. »Welcher Dorn?«
Finn kniete am Rand nieder und zeigte ihm das vorstehende Stück Stein.
Mellow kniete sich ebenfalls hin und legte sich sogar auf den Bauch. »Merkwürdig«, sagte er. »Überall sonst ist der Fels förmlich wie abgeschnitten, und nur hier ist dieser … halt mich fest, Finn!«, rief er plötzlich. »Halt meine Beine! Ich muss tiefer hinunterlangen.«
Finn tat wie geheißen; er packte Mellows Unterschenkel und klemmte sich dessen Füße hinter die Ellbogen. Mellow kroch an den Rand, streckte sich darüber hinaus und hing wenig später kopfüber nach unten. »Es sieht wie fest verwachsen aus«, hörte Finn ihn sagen, »aber – es lässt sich bewegen. Ich bin solch ein Hornvieh, Finn. Es lässt sich bewegen! Warte! Noch einen Ruck! So! – Zieh mich hoch!«
Finn bog sich nach hinten. Als er ihn erreichen konnte, griff er in Mellows Gürtel und zog den Freund zurück über den Rand. »Hörst du das?«, fragte Mellow und lauschte mit angespanntem Gesicht.
Finn horchte. Und wirklich: Ein Schleifen war zu hören, ein Schmirgeln und Kratzen, wie wenn schwere Steine aneinanderrieben. Etwas unter Finns Füßen bewegte sich und ließ den Fels erzittern.
»Was ist das?«, rief Gatabaid erschrocken und suchte Schutz bei Finn.
»Die unsichtbare Brücke, Gatabaid«, lächelte Mellow. »Da! Schau!«
Das Rumpeln und Rütteln steigerte sich zu einem dröhnenden Rumoren. Und dann sahen sie, wie sich etwas aus der Felswandschob, auf der sie standen: Ein weißer Steinbalken wuchs scheinbar unter ihren Füßen aus der Wand. Er schob sich knirschend waagerecht über den Schlund des Abgrundes, bis er drüben angelangt war. Das Rumpeln hörte schlagartig auf, und das Dröhnen verstummte. Steinstaub rieselte von dem hellen Balken herab; und sie sahen, dass er völlig eben und mit rechtwinkligen Kanten versehen war. Er maß etwas mehr als einen halben Klafter in der Breite und war auch in etwa so stark: ein Balken, aus Turmstein gemacht, ganz wie Mellow behauptet hatte.
»Siehst du?«, sagte Gatabaid. »Man muss es sich nur ganz doll wünschen.«
»Es hat kein Geländer, wie ich zugeben muss«, meinte Mellow und grinste. »Aber es ist breit genug, um sicher darauf zu gehen. Komm, Gatabaid. Ich bin einigermaßen schwindelfrei und werde dich tragen. Hol du den Mantel, Finn.«
Finn stand sprachlos da und starrte auf die Brücke aus Stein, die Mellow irgendwie herbeigezaubert hatte und über die der junge Landhüter jetzt mit Gatabaid ging. Kopfschüttelnd stieg Finn erneut über die Felsen und holte den Mantel. Wieder an der Brücke, lief er, ohne nach unten zu sehen, die zwölf Schritte über den Steinbalken hinüber; doch er atmete erleichtert auf, als er, ohne zu straucheln, drüben angekommen war, und konnte es kaum fassen, dass er wirklich hier stand.
»Dein Hut gehört wieder dir«, war alles, was er in diesem Moment zu sagen vermochte. »Auch wenn Saisárasar ihn nicht herausrücken wird. Aber sobald wir in Mechellinde sind, kaufe ich dir einen neuen. Versprochen! Du hast ihn dir verdient.«
Damit wandten sie sich
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