Der verletzte Mensch (German Edition)
Vom verletzten Menschen zur „Schule des Herzens“
Einleitung und Orientierung
Bei den vielen Gesprächen, die ich mit Freunden über die Idee zu diesem Buch geführt habe, spürte ich viel Neugierde und Ermutigung, mich diesem Thema zu widmen. Immer kam aber auch der deutliche Hinweis meiner Gesprächspartner, dass sie zwar einen Katalog menschlicher Verletzungen für sehr wichtig halten und interessant finden würden, aber mindestens so sehr würden sich alle Leserinnen und Leser klare Hinweise erwarten, wie sie mit ihren Verletzungen konkret umgehen sollten. Daher das Wichtigste gleich am Anfang: Der verletzte Mensch beginnt mit subtilen Verletzungen – die „Schule des Herzens“ beginnt mit Wachsamkeit.
Der erste Teil dieses Buches soll einige „Gefahrenzonen“ aufzeigen, in denen Menschen verletzt werden können. Diese beginnen mit der Geburt, setzen sich dann in der Kindheit, in der Schule und am Arbeitsplatz fort. Liebe, Kränkungen, Trennungen und der Kampf um die gemeinsamen Kinder können zu schweren Verletzungen führen. Was wir mit dem Abschieben und der Demütigung der Alten in unserer Gesellschaft verursachen, merken wir oft erst, wenn wir davon durch unsere Eltern betroffen sind. In manchen Geschichten werden Sie sich wiederfinden, manche werden Ihnen völlig fremd sein. Das Ausmaß möglicher Verletzungen und die Stadien der Schmerzen sind unvorstellbar. Nie hätte ich mir gedacht, wie viele tiefe seelische Verletzungen es selbst in meinem unmittelbaren Freundeskreis gibt. Und wie sehr diese den Lebensweg meiner Freunde beeinflusst haben.
Am Anfang von Verletzungen stehen die kleinen Unachtsamkeiten.
Das Vorurteil: Du wirst es nicht schaffen. Du bist einfach zu dumm. Du bist ein Versager. Mit jeder Wiederholung dieses Vorurteils verfestigt es sich und wird zu einer Verurteilung eines Unschuldigen.
Der Vergleich: In den ersten Lebensmonaten lieben fast alle Eltern ihre Kinder vorbehaltlos. Dann kommt die Zeit des Vergleichens. Welches Kind läuft zuerst? Welches Kind spricht zuerst? Welches Kind ist schöner? Welches Kind ist geschickter?
Die Bewertung: Mit dem Schuleintritt wird das Vergleichen scheinobjektiviert und systematisiert. Wer hat nur „Sehr gut“? Wer hat kein „Nicht genügend“? Wer ist der Beste in Mathematik? Wer fällt durch? Wer hat die schickeren Klamotten?
Natürlich führt nicht jede einzelne Unachtsamkeit, jede Benachteiligung, jedes Vorurteil, jede Ungerechtigkeit zu einer Verletzung. Wir sterben auch nicht gleich, wenn wir uns einmal in den Finger schneiden und ein bisschen bluten. Es ist der Mechanismus, der dahintersteckt, der uns zu Tätern und zu Opfern macht. Als Opfer leiden wir, wenn jemand immer wieder unseren wunden Punkt trifft. Als Täter fügen wir jemandem wie mit einer Tätowiernadel hunderte winzige Verletzungen zu, die in der Summe zum Beispiel das Tattoo eines Versagers ergeben. Tattoos auf der Haut lassen sich nicht einfach abwaschen. Tattoos auf der Seele prägen häufig Lebenswege von Menschen.
Es ist die Ansammlung der vielen kleinen Verletzungen immer an der gleichen Stelle, die zu schweren Wunden führen. An der Summe aller Lieblosigkeiten und abschätzigen Bemerkungen erstirbt dann eine Beziehung. Aus der Anhäufung von Vorurteilen bauen sich Konflikte zwischen ganzen Nationen auf. Dann reicht ein harmloser Anlass für die blutige Scheidung oder den Krieg der Völker. Es fängt immer klein an.
Freilich können wir nicht das Unrecht aus der Welt verbannen und uns für alles verantwortlich fühlen. Aber wir können jeden Tag die Entscheidung treffen, nicht zu verletzen. Oft helfen einfache Fragen: Ist das gut für mich selbst? Ist das gut für den anderen? Würde ich dieses Verhalten für mich selbst akzeptieren?
Im zweiten Teil „Sieger und Verlierer“ steht der richtige Umgang mit den eigenen Verletzungen im Zentrum. Wir werden der Frage nachgehen, warum manche Menschen an scheinbar kleinen Verletzungen zerbrechen und andere viel tieferes, ja teilweise unvorstellbares Leid überwinden können. Ein entscheidendes Kriterium der Bewältigung ist, welchen Sinn wir unseren Verletzungen geben. Davon hängt ab, ob wir aus unseren tiefsten Verletzungen unser größtes Talent entwickeln können.
Im dritten Teil geht es um die Kunst, sich selbst und andere nicht zu verletzen. Der Benediktinermönch David Steindl-Rast wird uns lehren, wie wir auch in der Hast des Alltags unsere Sinne und vor allem unser Herz öffnen können. Ein offenes Herz
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