Der verletzte Mensch (German Edition)
verzweifelten Versuch, den Partner um jeden Preis wiederzugewinnen. Er spielt sich durch die gesamte Skala von Weinkrämpfen bis Wutanfällen, von besonderer Liebenswürdigkeit bis zur Bestechung mit Geschenken, von eisiger Kälte bis vorgetäuschter Untreue, um den anderen zu zwingen, seine Liebe zu erwidern. Dinge werden nicht gesagt, weil sie Erfolg versprechend scheinen, sondern weil es wichtig ist, überhaupt noch zu reden.
Gewöhnliche Terroristen haben gegenüber romantischen Terroristen einen klaren Vorteil. Selbst die kühnste ihrer Forderungen kann nie so unerfüllbar sein wie die Forderung, geliebt zu werden. Gewöhnliche Terroristen können gelegentlich Konzessionen von Regierungen erzwingen, indem sie Flugzeuge entführen oder Gebäude besetzen. Romantische Terroristen sind dagegen letztendlich immer zur Enttäuschung verdammt. Die unbequeme Wirklichkeit lässt sich zwar hinauszögern, aber nicht aufhalten – der Tod der Liebe. „Trennung auf Probe“ heißt die Aufschiebung des Hinrichtungsdatums, die der Verlassende dem sich verzweifelt an diesen Strohhalm klammernden Hoffenden aus Mitleid anbietet. Der letzte Kuss auf die Wange und die Aufforderung „Lass uns Freunde bleiben“ zeugen dann vom schmerzvollen Ende der Beziehung, das man nicht länger vor sich selbst und den Freunden verbergen kann. Dann beginnt die Rückkehr vom so lange gewohnten Denken im „Wir“ zum neu zu definierenden „Ich“. [4]
Wenn unsere Seele „Hilfe“ schreit – wie wir tiefe Verletzungen spüren
Es beginnt mit einem heftigen inneren Protest. Die Art, wie wir die Welt bisher gesehen haben, stimmt plötzlich nicht mehr. Wir fühlen uns völlig ausgeliefert und hilflos. Es dringt etwas Fremdes von außen in uns ein, das nicht zu uns gehört. In diesem Augenblick wird der scheinbar sichere Schutzmantel, auf den wir vertraut haben, weggerissen. Unsere Illusion der Unverwundbarkeit wird zerstört. Eine tiefe Verletzung ist eine Erfahrung, die unser Selbst- und Weltverständnis gänzlich aus den Angeln hebt. Besonders Menschen, die meinen, in ihrem bisherigen Leben alle Probleme immer in den Griff bekommen zu haben, tun sich ungemein schwer, zu akzeptieren, dass ihnen etwas widerfahren könnte, das sie so tief in ihrer Persönlichkeit erschüttert. Gefühle wie Zorn und Angst wechseln sich in hoher Intensität ab.
Irgendwann erkennt man, dass man keine Kontrolle mehr über sich und die Situation hat, dass alle bewährten Krisenbewältigungsstrategien der Vergangenheit auf einmal nicht mehr wirken. An wen soll sich der Informatiker Hans P., 33, wenden, wenn er plötzlich nicht mehr schlafen kann, kaum mehr zur Arbeit gehen mag, wenn er jede alltägliche Kleinigkeit als „übermächtige Bedrohung“ empfindet? Was soll aus der 16-jährigen Maria werden, die trotz äußerlich intakter Familie unablässig nach Aufmerksamkeit und Zuwendung sucht, die Ersatz und Betäubung nur in Drogen und Selbstverletzung findet? Was kann die Akademikerin Anke A. tun, die intelligent, gebildet, sozial integriert und beruflich erfolgreich ist und doch angesichts des plötzlichen Endes einer großen Liebesgeschichte, von Verzweiflung überwältigt, beginnt, an Selbstmord zu denken? Sie hat das Gefühl, ihr werde bei lebendigem Leib eine hart erarbeitete „zweite Haut“ abgezogen – darunter nichts als Horror? [5]
Sie verfallen in eine tiefe Depression. Die Angst vor dem Alleinsein und die Sehnsucht, mit anderen darüber zu sprechen, geraten in Widerspruch mit dem Gefühl, es nicht ertragen zu können, unter Menschen zu sein. Manche werden von Albträumen geplagt, viele können einfach nicht schlafen und erwachen jeden Morgen völlig gerädert. Wie betäubt taumeln wir durch den Alltag, der Kopf ist leer, unsere vertraute Umgebung ist uns fremd. Im Supermarkt oder im Kino überfallen uns plötzlich Panikattacken. Symptome, die wir bisher nur bei körperlichen Krankheiten erlebt haben, wie Schweißausbrüche oder Herzrasen, lassen unsere Alarmglocken läuten. Wir zweifeln an uns selbst und an der Welt. [6]
Nach einem einschneidenden Erlebnis macht ein Mensch immer drei Phasen durch:
Protest – Depression – Neuorientierung
Das wollen wir in der Situation natürlich nicht wahrhaben. Wir wünschen uns nur, dass das Leiden aufhört – sofort. Doch wie unser Körper nach einem schweren Unfall Zeit zur Regeneration braucht, müssen wir auch unserer Seele Zeit zur Verarbeitung und zur Heilung geben. Dass wir mit einem gebrochenen Bein
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