Der verletzte Mensch (German Edition)
dieser Vorgangsweise zustimmten. Nach zehn Tagen im Krankenhaus war der Junge wieder einigermaßen genesen. Als er das Krankenhaus verlassen wollte, forderte man ihn auf, die Kosten für den Aufenthalt zu zahlen. Er verwies auf das Versprechen der Ärztin, dass seine Behandlung nichts kosten werde. Die Ärztin erinnerte sich aber plötzlich nicht mehr daran. Er bekam auch kein neues Fahrrad, sondern seine Eltern mussten noch ein Jahr sparen, um das alte reparieren zu lassen.
Was hatte dieses schreiende Unrecht bei dem kleinen Jungen ausgelöst? Er zog für sich den Schluss: „Wenn du ein Land und seine Gesetze nicht kennst, seine Sprache nicht sprichst, dann wirst du noch viele Probleme bekommen.“ Er übernahm also die Verantwortung für das, was passiert war, und entschied, einmal Anwalt zu werden. Diese Geschichte ist völlig typisch für alle Lebensläufe derjenigen, die sich später erfolgreich behaupten konnten. Die Erfolgreichen erkannten jedes Missgeschick als ein Problem, das man lösen konnte nach dem Motto: „Okay, shit happens, was kann ich jetzt daraus lernen?“ Die Gescheiterten hingegen führten die negativen Ereignisse in ihrem Leben auf die schlechte Natur der Mitmenschen zurück oder interpretierten sie als Verschwörung des Schicksals gegen sie. Sie fühlten sich als ohnmächtige Opfer und nicht als selbstbestimmt handelnde Individuen. Denn wie leicht hätte der kleine Junge mit dem kaputten Fahrrad sagen können: „So sind reiche Menschen eben, und ich bin nun einmal arm“ oder „Frauen sind so“ oder „Fahrräder sind gefährlich, daher fahre ich nie wieder Fahrrad“ oder „Ärzte sind so“ oder … Er zog aber den Schluss, dass sein Problem mit der mangelnden Kenntnis von Immigranten über ihre Rechte zu tun hatte. Viel später in seinem Leben wurde er der Verantwortliche für die Rechte von Minderheiten und Immigranten im Kabinett von US-Präsident Harry S. Truman.
Mihaly Csikszentmihalyi und viele andere Forscher haben herausgefunden, dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die Armut, Schicksalsschläge und negative Kindheitserfahrungen nie wirklich bewältigen konnten und im Leben erfolglos blieben. Sie erzählten später als Erwachsene im Rückblick Dinge wie: „Ja, mein Vater war immer betrunken, daher waren wir arm und ich konnte nicht studieren.“ Das heißt, sie machten andere oder die Umstände für ihr Scheitern verantwortlich. Der kleine Junge in der Geschichte dagegen konnte die Kränkung, die ihm angetan wurde, von seiner Person trennen, zog die richtigen Schlüsse daraus und wollte anderen in Zukunft dabei helfen, dass ihnen nicht das Gleiche passieren möge. Das ist, wie wir noch öfter sehen werden, ein Muster, das sich durch die Biografien von vielen Menschen zieht, die aus einer Verletzung eine menschliche Qualität entwickeln konnten.
Wie soll man mit den Verletzungen der Vergangenheit umgehen?
Diese Frage stelle ich David Steindl-Rast, den ich im Kapitel „Die Weisheit des Mönchs“ noch genauer vorstellen werde.
„Eigentlich sollte man überhaupt nicht mit den Verletzungen der Vergangenheit umgehen. Je weniger man sich damit identifiziert, desto besser. Wenn man im gegenwärtigen Augenblick lebt, dann identifiziert man sich nicht mit der Vergangenheit, das ist das Entscheidende. Menschen, die sehr unter ihrer Vergangenheit leiden, sind oft Menschen, die unter keinen Umständen dieses Leiden aufgeben wollen, sie sind besessen davon, es ist ihre Identität. Was wären sie denn, wenn sie plötzlich nicht mehr ein Opfer ihrer Eltern wären? Wenn man den langen Weg gehen will, zum Beispiel mit den Methoden der Psychoanalyse darin bohren will, habe ich nichts dagegen. Es gibt aber einen kürzeren Weg, und das ist, im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Dann kommen wir leichter von unseren kleinen Egos los und zu unserem wahren Selbst“, antwortet mir Bruder David.
Ich frage nach: Das mag vielleicht der Weg eines Mönchs oder des Dalai Lamas sein, die ihr ganzes Leben lang meditieren, um zu lernen, immer im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Aber was sollen wir gewöhnliche Menschen tun? Denn gerade wenn wir schwer verletzt wurden, ist der Schmerz im Augenblick besonders groß, wir können ihm nicht entfliehen, ja wir glauben, dem Schmerz nicht entkommen zu können.
„Wenn ich zum Beispiel chronische rheumatische Schmerzen habe und mir dann sage: ‚Das wird jetzt immer schlimmer, das kann ja nicht besser werden‘, dann bin ich schon verloren. Mir hilft
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