Der verlorene Brief: Roman (German Edition)
Hüggellandes wussten (oder zu wissen glaubten), hatten sie aus ihren mitgebrachten Büchern erfahren. Nirgendwo sonst in der Welt siedelten Vahits, außer hier bei ihnen, und somit entfiel jeglicher Grund, woanders hinzugehen. Wer von Fernweh geplagt wurde, kam an den Rand des Sturzes und besah sich die Tiefen Lande: die Schattenfenne mit ihren im Morgenlicht glitzernden Tümpeln; den Lauf des großen Stroms Tarduil, der gemächlich nach Süden floss; die Insel Langschelf, die wie ein Schiff die Wasser des Tarduil teilte; und die im Dunst liegenden, allmählich gen Osten ansteigenden und deutlich niedrigeren Hänge und Kämme des Akhanaith endh Anth-i-dheriltené.
Was in den Außenlanden vorging, ahnten die Vahits nicht; und sie ergingen sich auch nicht in Mutmaßungen darüber, denn was immer sich dort ereignen mochte (so dachten sie), läge weit fort und beträfe sie nicht. Eine Ausnahme stellte lediglich die Familie Tauber dar, in der man sich eigene Gedanken über die Welt »dort draußen« machte.
Finns Mutter Amafalia war eine geborene Tauber, und alles, was man über diese Familie an Merkwüdigem sagen konnte, war eine unbestimmte Sehnsucht nach den endlosen Weiten jenseits des Sturzes, die in den Familienköpfen herumspukte. In den Wohnstuben der Taubers wurde öfter von den östlichen Landen gesprochen als anderswo, und es wurden Mutmaßungen darüber angestellt (»gesponnen«, nannten es ihre Nachbarn), was denn wohl in Arelian, Vindland oder Revinore dieser Tage geschehen möge. Die Taubers wohnten in Aarienheim nahe des Sturzes, und oft trafen sie sich des abends am jäh abfallenden Rand der Felsenmauer und sahen zu, wie die Sonne hinter den fernen Bergen versank und die heraufziehenden Schatten die Tiefen Lande eine Meile unter ihnen nach und nach verschluckten.
Bisher war es indes keinem Tauber eingefallen, in die Tiefen Lande hinab zu steigen, sah man von Amafalias Großvater Bartolo ab, der behauptete, in seiner Jugend den Alten Weg ganz hinab bis zum Ufer des Tarduil gegangen zu sein; doch er war, wenn er denn die Wahrheit berichtet hatte, allein hinabgestiegen, und wirklich glauben mochte das niemand.
Da aber die Vahits nie einen Fuß über die natürlichen Grenzen des Hüggellandes hinaus setzten (oder, wie in Bartolos Fall, wenn er denn wirklich gegangen war, zumindest nicht weit), und bisher auch niemand aus den Außenlanden gekommen war, so dachten sie zu keiner Zeit darüber nach, dass diese Grenze jemals von außerhalb überschritten werden könnte.
Ein Leichtsinn und ein mehr als folgenschwerer Irrtum, wie der werte Leser jetzt weiß.
Über den Autor
Robert M. Talmar , geboren in Hannover, ist als Berater in der Wirtschaft tätig. Er ist Autor mehrerer erfolgreicher Sachbücher. Dennoch galt seine Leidenschaft von Jugend an auch dem phantastischen Genre. So stammen unter anderem ein gutes Dutzend Science-Fiction-Romane und -Novellen aus seiner Feder. Er lebt mit seiner Familie in Norddeutschland.
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