Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Der verlorene Freund: Roman (German Edition)

Titel: Der verlorene Freund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos María Domínguez
Vom Netzwerk:
auseinander.
    Ich überließ mich dem Glauben, dass ich nur die Programme öffnen musste und eine Antwort finden würde. Bevor ich den Computer anschloss, rauchte ich meine Zigaretten auf, ging einkaufen, machte das Bett, ordnete Bücher, und als mir die Vorwände ausgingen, schaltete ich Hansens Elektronenhirn ein, ohne ermessen zu können, wie sehr es mich noch überraschen würde. Über Turmzinnen hinweg sah man die Menschenmenge, die sich an einem Sommertag über die Karlsbrücke schob, und weiter hinten das gotische Dach des Schlosses, auf das ich während meiner Prager Zeit so viele Nächte geblickt hatte, meist nach den alkoholschweren Konsulatsfesten, wenn ich einen klaren Kopf bekommen wollte, und zusammen mit Wowa von der russischen Botschaft, der sich mit mir betrank. Nie vergaß Wowa ein paar Kronen für die Bettler hinzuwerfen, die auf dem Brückenpflaster knieten, die Stirn auf dem Boden hinter ihren Mützen. Bei jeder Krone hoben sie kurz den Kopf, wie ein mechanischer Hund auf Münzeinwurf, aber Wowa war der Ansicht, sie schuldeten ihm mehr für sein Geld, schrie auf Russisch und forderte ein Gebet für seine verlorene Seele.
    Ich erkannte die Häuser und Straßencafés am Moldauufer wieder und öffnete linker Hand einen weiteren Ordner, als ginge ich Stufe für Stufe treppab. Ich stieß auf zahllose Fotos. Mit seinen Enkeln, mit Eva und ihrem Mann, bei Spaziergängen in Rom und an einem Tisch, jünger und lächelnd. In Paris, in Begleitung einer Frau mit großen Vollblutaugen, auf dem Friedhof Montmartre vor dem Grab Heinrich Heines. Auch mit Nina, in New York, beim Herumalbern in einem Jazzclub, im Central Park, die Füße im Schnee versunken. Waldemar zeigte einen arglosen Blick, den ich in abgeschwächter Form noch kennengelernt hatte, doch auf dem Bild offenbarte er seine Wehrlosigkeit mit herausforderndem Selbstvertrauen.
    Sein Bilderschatz speicherte alte, zerfledderte Schuhe an den Füßen einer alten Frau, ein Paar rissige gelbe Arbeitsstiefel neben einer leeren Flasche auf der Straße, Mauern mit zerfetzten Plakaten, Ezra Pounds Grabstein in San Michele und das Grab von Joseph Brodsky; zahlreiche Friedhofsskulpturen, Flieger mit Trophäen, Boxer mit Handschuhen, Kinder mit Spielzeug und endlos viele Engel: Seraphim und Thronengel, denen ein Arm oder ein Bein fehlten, alte, glatzköpfige Engel, Gerippe fast, Erzengel mit gebeugtem Knie und Schwert in der Hand oder im Hintergrund lehnend, im Schatten der Trauernden, gleichmütig und sinnlich. Pounds Grabplatte war von Efeu umrankt, ein filigranes ockerfarbenes Blatt hängte sich als Schnörkel an das »d« wie bei einer Unterschrift, und die pralle Sonne warf den Schatten des fotografierenden Waldemar auf den Marmor, wie eine Frage, die in eine andere mündete. All das schwebte im Limbus dieser wenigen Momente, die ihn überlebt hatten, Erinnerungen, die Oberfläche blieben, offensichtlich und unzugänglich, so dass meine Neugier erlahmte und ich zur Karlsbrücke zurückkehrte, um die nächste Tür zu öffnen.
    Ich stieß auf Miniaturen und Gemälde von Dürer, Schiele, Klimt, Rothko, auf ein Bild von Cézanne, in dessen Pinselstriche man bis zur Pigmentmasse vordringen konnte. Hansen hatte viele Museumsseiten gespeichert und unzählige Jazz- und Bluesplatten, Kammermusik und Opern. Ich fand eine Enzyklopädie, Wörterbücher verschiedener Sprachen, Filme von Buster Keaton, Bergman, fast alles von Tim Burton, Videos von Katzen, die verrückte Dinge anstellten, und eine Aufnahme aus dem Jahr zweiundsechzig, in der mit schwermütigen Augen und prallen Lippen Nina Simone vor einem Klavier saß und I loves you Porgy sang. Tagelang bekam ich sie nicht mehr aus dem Kopf. Es war nicht bloß der intime Rahmen, die bescheidene, kahle Bühne, es war etwas, was sich seit Urzeiten aus einem Regenrauschen zu erheben schien, doch niemals Erleichterung brachte. Vielleicht eine Klage über all das, was ihr missglücktwar und was sie nun dem Lied hinzufügte, als sänge sie zwei Texte auf einmal.
    Ich sah Coltrane, Parker, Davis und viele andere Musiker, die sich in alten Fernsehstudios beim Spielen abwechselten, mit grauen Anzügen, Krawatten, Zigaretten, wie sie den Speichel aus den Mundstücken schlugen, die Arme kreuzten, auf den nächsten Auftritt warteten.
    Ein anderes Tor führte mich zu Formularen und Urkunden von Leuten, die Autos, Häuser oder Land verkauften, Vollmachten abtraten oder Gewinne ausschütteten. Ich fand Straßenkarten verschiedener

Weitere Kostenlose Bücher