Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Länder, Zeitungsartikel, Reiseführer, und als ich sein Mailprogramm öffnete und ihm auch dort über die Schulter spähen wollte, stieß ich auf einen weißen Bildschirm. Ein Weiß, das schwindlig machte, als spränge Hansens Elektronenhirn ins Leere.
Ich versuchte, die Angelegenheit zu vergessen, ärgerte mich über meinen Mangel an Diskretion. Er hatte seine Geheimnisse mit ins Grab genommen. Das war sein gutes Recht. Aber wie hatte er gelebt? Das war nicht meine Sache. Ich wusste, wie er gestorben war. Das war kein Geheimnis. Aber ich wollte herausbekommen, aus welchem Stoff er gemacht war. Zu seinen Lebzeiten hatte ich es nicht versucht. Jetzt wollte ich es wissen, gebannt vom Abdruck eines Kreuzes, auf einer Auktion erstanden, vielleicht in einem Antiquitätenladen in der Calle Florencia oder in der Tristán Narvaja. Es musste dort wenigstenseinen Winter lang, vielleicht auch länger, gehangen haben, während sich der Rauch aus dem Kamin an seine Umrisse heftete. Dann wollte er es nicht mehr vor Augen haben. Was sah er darin? Schließlich überdeckte er die Spuren an der Wand.
Einige Tage lang war ich versucht, Nina anzurufen und sie danach zu fragen, doch ich fürchtete, mich in den geschmeidigen Andeutungen ihrer Stimme zu verfangen. Um ehrlich zu sein, untergrub sie meine Motive. Ich wollte sie schon anrufen, verband jedoch eines Abends Hansens Elektronenhirn mit dem Internet und entdeckte, dass er in Outlook sein Mailkonto nicht gelöscht hatte. Eine Spam-Lawine brach sich Bahn, und von Stunde zu Stunde folgten mehr Junkmails. Eine Woche lang flossen Angebote für Medikamente, Spycams, Englischkurse und Methoden zur Penisvergrößerung herein. Die Welt stürmte die Mailbox eines toten Mannes mit ihrer Flutwelle von Paranoia und Hirngespinsten. »Warten Sie nicht länger«, »montieren Sie Gitter«, »verlängern Sie Ihre Lust!«. Alles versprach das Neuste vom Neusten, wie die Waschmaschinenwerbung Anfang der 50er, und mit erdrückender Hartnäckigkeit. Bei jeder Nachricht gab es einen Piepton, ich ging hin und schaute auf den Bildschirm, als angelte ich an einem Flussufer. Komm schon, sagte ich, niemand ist völlig allein auf der Welt.
Vier, fünf Tage vergingen, bis eine echte Nachricht kam. »Entweder bist Du allzu gefesselt vonDeinem neuen Freund, um Dich an mich zu erinnern«, hieß es dort, »oder Du hast die bitteren Gedanken aufgegeben. Die ganze Zeit über musste ich an Dich denken, doch offen gestanden habe ich ebenso versucht, Dich zu vergessen. Sonne und Vögel helfen dabei, hier und da ein Schmetterling. An manchen Tagen habe ich nicht übel Lust, Dich zu erwürgen, dann kommt meine Enkelin, und ich sage mir, ich sollte Dir die Chance geben, sie kennenzulernen. Heute haben wir zu ägyptischen Trommeln getanzt, bis wir auf einen Wäscheberg sanken, da haben uns dann Juanucho und meine Schwiegertochter gefunden. Ich glaube, sie halten mich für dekadent. Aber sie haben keine Wahl, das ist mein Vorteil. Ein Geständnis: Ich war schwermütig, ich habe mir einen Pullover gekauft und bin im Park spazieren gegangen. Die Trommeln haben mich gerettet, und Leila, die sich ein Kamel von mir wünscht, um durch Afrika zu reiten.
Die drei weißen Blütenbilder, von denen ich Dir erzählt hatte, meine drei Bräute, sind in der Empfangshalle eines deutschen Hotels gelandet, aber mehr schreibe ich Dir nicht, bis Du mir nicht von Dir schreibst. Erzähl mir, wie es Dir auf dem Kreuzweg nach Corrales ergangen ist, und bitte, sag, dass alles ein gutes Ende gefunden hat. Ich habe darüber nachgedacht, was passiert ist, und hoffe, Du wirst über mein Fazit nicht die Nase rümpfen: Du hast getan, was Du tun musstest, das sollte Dir genügen.Ich schicke zwei dicke Küsse. Pass gut auf Dich auf. Deine Verónica.«
Die Nachricht war um drei Uhr früh von einer argentinischen Mailadresse abgeschickt worden, der einzige Hinweis auf ihre Herkunft. Was auch immer in Corrales geschehen sein mochte, Verónica wusste es, wusste möglicherweise noch mehr, war auf selbstlosere, ehrlichere Art mit ihm vertraut als Nina oder Wanda, aber es fiel mir schwer, sie von Hansens Tod zu unterrichten oder mein Eindringen in seinen Computer zu rechtfertigen. Ich musste erst den Streit um das Gemälde erklären, meine Begegnungen mit Eva, mein Interesse an ein paar übertünchten Spuren an der Wand. Nichts davon konnte man einer Frau ohne Gesicht sagen, und dennoch versuchte ich in endlosen Entwürfen die Furcht zu bemänteln, sie zu
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