Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
verlieren, bis ich ihr, des Probierens müde, die Version Nummer zehn schickte.
Verónica antwortete an einem Freitagabend. »Die Welt ist ein Berg von Verrückten. Warum willst Du den Gipfel erklimmen?«, sagte sie, riet ihm, sich zu entspannen, versprach, ihm zu helfen, und bestätigte, dass sie seine Mails aufbewahrte, »vom Anfang aller Zeiten«. Sie werde sie ihm nach und nach schicken, sobald sie nicht mehr ihre Naivität verfluche. »Ich hatte gedacht, Du bewahrst sie auf«, beschwerte sie sich.
Aus dem Mailwechsel, den ich für sie improvisierte, voll bedenklicher Gedächtnislücken und Mutmaßungen, die sich auf ihre Worte und meine Gespräche mit Waldemar stützten, erstand die Frau mit den weit auseinanderliegenden, wachen Augen, die ich ins Schaufenster einer Buchhandlung in Saint-Germain hatten blicken sehen. Hansens Elektronenhirn speicherte Fotos, die sie zusammen im Jardin du Luxembourg, vor dem Schild der Terrasse Lautréamont oder an einer Straßenecke zeigten, und bevor ich sie hinters Licht führte, betrachtete ich ein paar Sekunden ihr Bild vor dem Buchladenfenster, beunruhigt von der Faust, die den Kragen der Windjacke zuhielt und sie vor mehr zu schützen schien als vor der Pariser Kälte.
Sie schickte mir die Nachrichten schubweise, ihre und seine, Mosaiksteine einer Geschichte, deren fehlende Teilchen ich mir erschließen musste. Sie hatten sich auf einer Vernissage kennengelernt. Als Verónica ein Bild befleckt hatte, weil ihr Weinglas mit Waldemars Ellbogen zusammengestoßen war, gestand sie es ihm flüsternd und veranlasste ihn, das Malheur mit Blick Richtung Saal zu verdecken, und so blieben sie vor dem Werk stehen, lächelnd und nervös, bis ihnen zwei arglose Gäste in der Nähe den Rücken zuwandten und sie ihren Platz verließen.
Wie genau es weiterging, weiß ich nicht. In den ersten Mails wurde über den Vorfall gescherzt, Waldemar bedauerte, nicht gesehen zu haben, wie sehr das Gemälde dadurch gewonnen hatte, und sie versicherte, der Cabernet sei hervorragend gewesen.Es war von einem Rendezvous die Rede, das keine Gestalt annehmen wollte, Verónica reihte eine Ausrede an die andere, Aufschübe, doppeldeutige Antworten, und eines Tages bat sie ihn, sich zu retten. Sie warf sich vor, das Leben ihrer Nächsten zu ruinieren. Doch insgeheim ließ sie sich von Waldemars Hartnäckigkeit bezwingen. Sie hatte Angst vor ihren Kindern, vor ihren Eltern, ihrem Exmann, einem Theaterschauspieler, den Hansen schüchterne, furchtsame Figuren hatte spielen sehen, der Verónica jedoch mehrmals geschlagen hatte. Sie glaubte, Waldemar habe sich in die paar albernen Tricks verliebt, die sie täglich anwandte, um nicht ganz so entsetzlich auszusehen, und ermunterte ihn, sich andere Frauen zu suchen. Hübschere, jüngere, die gebe es zuhauf. Doch jede ihrer Weigerungen machte die Begründung intimer, und sie wurden ein Liebespaar. Sechs Monate später reisten sie nach Prag, Genf und Paris, von wo sie mit dem Plan zurückkehrten, ein gemeinsames Leben zu versuchen, das Hansen in den »Freund« der Mutter zweier Kinder verwandelte, die wenig geneigt waren, ihm einen Platz am Tisch einzuräumen. Juan, der Ältere, den man »Herr Professor« rief, war zwölf, und die Jüngere wurde Tuca genannt, ich weiß nicht, weshalb. Der »Herr Professor« verachtete ihn und hielt ihn wohl für dumm, weil Hansen nicht wusste, wer Molières Freund war und wie er den Hamlet zu verstehen hatte. Aber nachts machte er ins Bett. Tuca klebte Hansen einenKaugummi auf den Sitz im Kino, in das er sie eines Nachmittags ausgeführt hatte, um sie zu erobern. Vermutlich merkten weder Verónica noch Waldemar, inwieweit die Kinder bereits ihre Entscheidung getroffen hatten. In Atlántida hätten sie Eva mit Kabeln aus einem alten Schuppen beinahe durch einen Stromstoß getötet. Kurz darauf fiel der Junge vom Dach, und Tuca schluckte Gift. All das hatte sich, wie ich dem einsilbigen Mailwechsel damals entnahm, in acht Monaten abgespielt. Als die Worte wieder zu ihrem Recht kamen, versuchte Waldemar, Verónica von der Panik zu befreien, die sie in die Arme ihrer Kinder trieb, überzeugt, dass sie einen furchtbaren Fehler begangen hatte.
Das zweite Mailpaket enthielt Klagen, Entschuldigungen, kurze Nachrichten aus beider Leben. Verónica stellte ihre Zeichnungen in Galerien aus, in der Altstadt, in São Paulo, hielt sich mit Malunterricht über Wasser, hätte beinahe das Land verlassen, meldete sich aber wieder voller Stolz, weil
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