Der verlorene Freund: Roman (German Edition)
Spiegel: da war ich schlecht, da war ich gut, da habe ich es vermasselt. Wenn ich endlich nicht nur mich sehen würde, wüsste ich, warum er sich umgebracht hat. Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
Evas Augen funkelten, vielleicht weitete auch ein Aufputschmittel ihre Pupillen. Manchmal war mir, als sähe ich das Piercing an der Nase, als hätte es in dem Gesicht überlebt, das sie mir mit dem Temperament ihrer sechzehn, siebzehn Jahre zuwandte. Ich sah zu, wie sie trank, Speichel im Mundwinkel sammelte und das Interesse am Essen verlor. Es war offensichtlich, dass sie sich an der Serviette auf dem Tisch festklammern musste. Auf einmal schien sie zu glauben, dass sie mir zu viel erzählt hatte, biss sich auf die Lippe und entschuldigte sich.
Ich bat sie, mir ihre Söhne zu zeigen, und sie schlug die Augen nieder, wühlte in der Handtasche und zog ein paar Fotos aus dem Portemonnaie. Cosimo und Dino, fünf und sieben Jahre alt, blickten mit der Bescheidenheit von Göttern in die Kamera. Der Ältere sah ihr sehr ähnlich. Sie erzählte mir von ihnen, von ihren Einfällen und wie gern sie die beiden mitgebracht hätte. Sie hatte ihnen erzählt, ihr Großvatersei von einem Klavier erschlagen worden. Er sei die Straße entlanggegangen, und ein Klavier sei ihm auf den Kopf gefallen. Das könnten sie sich wie im Zeichentrickfilm vorstellen, und es sei allemal besser, ein Klavier fallen zu sehen, als den Großvater.
Kein einziges Mal erwähnte sie ihren Mann, weshalb ich annahm, dass sie allein war wie ihre Mutter, wie in Zukunft wohl die meisten Mütter. Ein Freund hatte einmal gesagt, die Geschichte der Menschheit sei die von Mutter und Sohn, die beiden seien der Anfang und das Ende. Zunächst weite sich der Kreis, aber nicht weit genug, eines Tages fange der Mann an, seine Frau Mama zu nennen, sie nenne ihn Papa, und man begreife, dass sich die Leute aus schicklichen Gründen trennen. Mit diesen Gedanken zerstreute ich mich, während Eva auf der Toilette war, und als sie geschminkt und gefasst zurückkam, gingen wir die paar Straßen bis zu Waldemars Wohnung. Sie war nun distanzierter, machte sich vielleicht Vorwürfe, sagte, sie werde noch eine Woche bleiben, um Abnehmer für die Möbel zu finden, und bat mich beim Abschied um einen Gefallen. Sie traue sich nicht, einen Blick in Waldemars Computer zu werfen, habe Angst, sich die Festplatte ihres Vaters anzusehen. Schwer genug sei es gewesen, mit den eigenen Erinnerungen zurechtzukommen, sie wisse nicht, ob sie die nun gegen unumstößliche Gewissheiten eintauschen wolle. Sie bat mich, ihn mit nach Hause zu nehmen und sie anzurufen, falls ich eine Geschichtefände, die ihre Söhne befriedigen und stolz machen könne. Für mehr sei sie nicht gewappnet. Später vielleicht. Sie werde mir schreiben. Bisher war ich bloß liebenswürdig gewesen, und obwohl eine Stimme mir riet, sie ihren Angelegenheiten zu überlassen, war es doch schwer, den Rechner zurückzuweisen; mein Zögern gab ihr die Gelegenheit, sich rasch zu verabschieden und hinter der Tür zu verschwinden.
Ich ging mit dem Gefühl nach Hause, einen Fehler zu begehen, hielt mir das immer wieder vor Augen und kehrte am nächsten Morgen zu Hansens Wohnung zurück. Eva war mit ein paar Leuten beschäftigt, die Möbel die Treppe hinuntertrugen. Die Wohnung war halb leer, man sah geschlossene und offene Koffer, dazwischen Packpapier, und sie lief mit einem Kopftuch und Gummihandschuhen hin und her. Inmitten des Durcheinanders wechselten wir nur wenige Worte, ohne die Vertrautheit des vorigen Abends, ja fanden kaum einen Platz zum Hinsetzen. Sie hatte die Vorhänge abgenommen, die Musikanlage und die CD s waren in Kisten verpackt, und ich hätte beinahe gefragt, was sie mit ihnen vorhatte. Aber um ehrlich zu sein, war mir die Wohnung so unbehaglich, dass ich am liebsten geflohen wäre. Eva führte mich in Waldemars Arbeitszimmer und zeigte mir den Computer, während sie den Möbelträgern Anweisungen gab. Ich war ein paarmal in dem Raum gewesen, aber damals hatte er noch wie ein echtes Zimmer gewirkt, in dem alles am angestammtenPlatz zu sein schien. Jetzt bevölkerten es nur noch sinnlose Bündel, wirre Kabel und eine Fliege, die gegen das Fenster flog. Eva kam und ging wieder, also verabschiedete ich mich, den Computerkasten unter dem Arm, als trüge ich eine Schuhschachtel mit mir. Aber ich trug Hansens Gedächtnis wie die anderen seine Sessel, und im Grunde strebten wir unten mit der gleichen obszönen Gier
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