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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Handflächen dunkelrot waren und Blut über ihre Unterarme rann.
    Das Mädchen war vollkommen außer sich. Jara lief mit ausgestreckten Armen auf sie zu, aber Dawa schien es gar nicht zu bemerken, sondern schlug einen Haken, packte den erstbesten Mehltopf und schleuderte ihn in den Abgrund, dann noch einen und noch einen. Langgezogene weiße Mehlspuren markierten wie Rauchfahnen die Flugbahnen der Gefäße.
    Dawa schien wahllos alles mögliche vom Boden aufzuheben und in die Schlucht zu befördern. Nein, nicht wahllos, erkannte Shan gleich darauf. Das Mädchen zerstörte alles, das auf den Buddhismus oder die geheime Feier hindeutete. Das Foto des Dalai Lama. Die anmutige Bronzehand. Und dann bekam sie plötzlich Shans Beutel mit dem mani -Mantra zu fassen. Shan wollte eingreifen, doch es war zu spät. Die Tasche mit seinen Vorräten für den nächsten Monat und den kostbaren Schafgarbenstengeln flog über die Kante in die Kluft.
    Es brach allgemeine Unruhe aus, und die Leute flohen unter panischen Rufen den Hang hinauf. Shan lief zum Innenhof. Lokesh stand am chorten und starrte entgeistert zu dem Stein, auf dem die Kehlsänger gesessen hatten. Dort saß nun wieder Surya, den sie seit einer Stunde nicht mehr gesehen hatten, gekleidet in das schlichte graue Baumwollhemd, das er für gewöhnlich unter dem Mönchsgewand trug. Seine Robe lag auf seinem Schoß. Mit glasigem Blick riß er Stück für Stück von dem kastanienbraunen Stoff ab und warf die Fetzen in die lodernde Kohlenpfanne. Lokesh trat vor, als wolle er Surya von seinem Tun abhalten, doch der greise Mönch stieß ihn weg. Nach kurzem Zögern bemerkte Lokesh, daß die Berührung einen feuchten Fleck hinterlassen hatte. Er erstarrte. Es war Blut.
    »Ich bin kein Mönch mehr«, klagte Surya, als die Flammen den Rest seines Gewands verzehrten. »Ich habe jemanden getötet«, stieß er gequält mit hohler Stimme hervor. »Kein Mönch mehr. Kein menschliches Wesen.«

Kapitel Zwei
    Dawa kam auf den Hof gelaufen. Sie schrie noch immer. Als Jara sie endlich einholte und in die Arme schloß, trommelte sie mit beiden Fäusten auf seine Brust ein. Lokesh griff in die Flammen und versuchte vergeblich, die brennenden Stoffetzen herauszuholen. Dann schaute er mit fassungslosem Blick zu Shan. Es war offenbar noch jemand ums Leben gekommen. Die Hügelleute flohen in Panik, und Surya entsagte seinem Gelübde. Sie stürzten sehenden Auges in den Brunnen.
    Lokesh nahm etwas von seinem Gürtel und drückte es Surya flehentlich in die Hand. Es war seine mala , seine Gebetskette. Der alte Mönch starrte teilnahmslos auf die Asche seiner Robe und ließ sich die Perlen um die Finger wickeln. »Om mani padme hum«, flüsterte Lokesh traurig, als müsse er Surya daran erinnern, wie man den Mitfühlenden Buddha anrief. Die Augen des alten Mönchs richteten sich mit leerem Blick auf Lokesh und dann geistesabwesend auf die mala zwischen seinen Fingern. Er öffnete die Hand und ließ die Kette zu Boden fallen. Lokesh hob sie auf und stimmte ein neues Mantra an, eine dringliche Bitte an Tara, die Beschützerin der Gläubigen.
    Niemand warf noch Mehl in die Luft. Kein Freudenschrei erhob sich mehr gen Himmel. Die wenigen verbliebenen Hügelleute waren an die Mauern des Hofs zurückgewichen und starrten Surya verwirrt und verängstigt an. Der jüngere Mönch, der zuvor den Kehlgesang übernommen hatte, schwieg nun und schaute unverwandt und mit qualvoll verzerrtem Gesicht die brennende Robe an.
    Liya kam hinzu, ließ hektisch und erschrocken den Blick über das Durcheinander schweifen und mußte sich erst mit einer, dann beiden Händen am chorten abstützen. Sie schloß einen Moment lang die Augen, beruhigte sich ein wenig, richtete sichwieder auf und holte hinter dem Schrein einen Tontopf mit Wasser hervor. Während Jara die schluchzende Dawa weiterhin im Arm hielt, machte Liya sich wortlos daran, das Blut von den Händen des Mädchens abzuwaschen.
    Als Shan sich dem einst so fröhlichen und sanften Mönch näherte, kam er sich völlig hilflos vor. »Surya«, flüsterte er dicht neben dem Ohr des alten Mannes. »Ich bin’s – Shan. Erzähl mir, was passiert ist.«
    Surya ließ nicht erkennen, ob er ihn gehört hatte. Ein neues Geräusch drang über seine Lippen. Kein Kehlgesang oder Mantra, sondern ein leises, schreckliches Wimmern, das Geräusch eines sterbenden Tiers. Er starrte zu Boden, und das Funkeln seiner Augen schien vollends zu erlöschen.
    Shan erschauderte und ging zu Dawa.

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