Der verlorene Sohn von Tibet
Amerikaners lag, in eine Plane gewickelt, auf einem Tisch neben dem Springbrunnen und wurde von mehreren Männern fotografiert. Zur selben Zeit stand einer von Mings Assistenten vor einer Fernsehkamera und ließ sich mit dem Tisch im Hintergrund interviewen.
Tan führte Shan zu einem Schuppen auf der anderen Seite des Anwesens, wo ein Soldat Wache stand. »Die Öffentliche Sicherheit holt ihn morgen ab«, sagte der Oberst. »Wir müssen ihn in den Bau bringen.« Er meinte das Militärgefängnis auf dem Kasernengelände in der Nähe des Lagers der 404ten. Ming und Lu saßen unter schwerer Bewachung bereits dort ein, nachdem sie jeweils eine umfassende Aussage zu Protokoll gegeben hatten. »Noch heute nachmittag.« Der Oberst sah Shan ruhig und ungerührt an. »Meine Leute sagen, er hat keinerlei Schwierigkeiten gemacht«, fügte er hinzu, drehte sich um und ging weg. Das also würde das Ende sein. Shan mußte sich nun von seinem Sohn verabschieden.
Lange Zeit starrte er nur die geschlossene Tür an und rang nach Worten. Schließlich murmelte der Posten irgend etwas und stieß die Tür auf. Ko saß auf dem Boden. Seine Hand war frisch verbunden, und auf seinen ausgestreckten Beinen lag ein vertraut wirkender Schnürbeutel.
Ko blickte mit ausdrucksloser Miene auf. »Lokesh hat gesagt, du würdest das brauchen können.« Er schob den Beutel in Shans Richtung. Mit dieser Tasche hatte Shan sich in Klausur begeben sollen. Sie musterten sie schweigend.
Dann sprach Ko plötzlich weiter. »Als wir in der Schlucht waren und ihre Leiche in das Tuch gewickelt haben, hat Lokesh zu mir gesagt, ich solle nicht ihren Tod beklagen, sondern darum trauern, daß sie gerade erst begonnen hatte, sich selbst zu erkennen. Er sagte, das größte Mysterium eines jeden Lebens bestehe darin, die eigene Gottheit zu finden.«
Shan sah, daß sein Sohn etwas in der gesunden Hand hielt: eine längliche Bambusdose. »Ich hatte sie in die Decke gewickelt«, sagte er und kniete sich hin. »Aber ich hätte nie gedacht, sie könnte …« Er beendete den Satz nicht. Ko beugte sich vor und warf ihm den Behälter hin.
»Sie befindet sich seit fünf Generationen im Besitz unserer Familie«, sagte Shan. »Du bist die sechste.« Er schob die Dose zurück zu seinem Sohn.
Ko sah sie lange an, bevor er sie wieder nahm. Diesmal hielt er sie anders, behutsamer, sogar ein wenig unbeholfen. Er drehte sie um und betrachtete die verblichenen Ideogramme, bevor er schließlich den Deckel öffnete und hineinblickte.
»Es sind vierundsechzig«, sagte Shan, als Ko die lackierten Schafgarbenstengel herausholte.
»Lokesh hat sie Gebetsstengel genannt. So wie bei den Perlen an seiner Kette, schätze ich.«
»Sie haben schon dem Großvater deines Urgroßvaters gehört. Man benutzt sie, um Verse zu finden.«
»Verse?« fragte Ko.
Einen Moment lang blieb die Zeit stehen. Shan vergaß den Wachposten vor der Tür oder daß bald Soldaten kommen würden, um Ko wegzubringen, womöglich für immer. Sein Sohn fragte ihn nach den Versen des Tao.
»Ist es etwas Lustiges?« hörte er Ko fragen. Shan merkte, daß er lächelte. Er schüttelte den Kopf, bekam aber noch immer kein Wort heraus.
Ko sah die Stengel an. »Zeig es mir, Vater«, bat er leise, fast flüsternd.
Shan warf die Stengel, teilte sie in drei Haufen und ließ Ko sie auszählen, während er ihm das uralte Verfahren erläuterte. Dann wiederholte er manche der Verse mehrmals, und als Ko ihren Rhythmus verstand, fiel er mit ein, ohne den Blick von den Stengeln abzuwenden. Schließlich steckte sein Sohn die Stengel zurück in den Behälter und musterte sie mit etwas, das Shan noch nie auf seinem Antlitz gesehen hatte. Mit innerer Ruhe. »Ich bin die sechste Generation«, sagte Ko. »Der Sohn des Meisterverbrechers Shan Tao Yun«, fügte er mit leichtem Grinsen hinzu. Dann schloß er die Dose und gab sie Shan zurück. »Man würde sie mir abnehmen und zerstören oder verkaufen. Bewahre sie für mich auf.«
Shan nickte ernst, griff in die Tasche und reichte ihm einen bläulich glänzenden Kiesel. »Lokesh hat den Großteil seines Lebens im Gefängnis verbracht«, erklärte er. »Als er ein paar Monate vor mir entlassen wurde, hat er mir diesen Stein gegeben und gesagt, er habe ihn all die Jahre bei sich getragen, denn es sei ein mächtiger Schutzzauber. Er sagte, daran zu reiben habe ihn mit dem Rest der Welt verbunden, zumindest mit den wichtigen Dingen der Welt.«
Ko verstaute den Kiesel tief in seiner
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