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Der verlorene Sohn von Tibet

Der verlorene Sohn von Tibet

Titel: Der verlorene Sohn von Tibet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliot Pattison
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Flaschenzüge und verrotteten Seile auf dem unterirdischen Sims denken – und an die lange Aussparung in der Wand, wo das gewaltige thangka ursprünglich verstaut worden war. Dies war das Festtagsbanner, das zu besonderen Anlässen den zentralen Turm des gompa geschmückt hatte. Der Bergbuddha.
    Manche der Häftlinge ließen sich im Lotussitz nieder und stimmten laute Dankgebete an, andere standen wie vor Freude gelähmt da, während Tränen über ihre lächelnden Gesichter rannen. Shan hörte, daß irgendwo ein Motor angelassen wurde, und sah gerade noch, wie Ming mit hoher Geschwindigkeit davonfuhr.
    Die Wachposten hatten ihre Schlagstöcke gezogen und schauten erwartungsvoll zu Tan. Einige von ihnen beobachteten Surya, der sich den Gefangenen immer weiter näherte, dabei aber ebenfalls den Bergbuddha fixierte. Tans Adjutanten eilten herbei, und einer wies zurück ins Tal. Die Bauern kamen mit ihren Hacken und Harken quer über die Felder angerannt. Aus den wenigen Häusern, die man sehen konnte, strömten Kinder, und alle hielten sie auf das große Banner zu.
    Einer der Adjutanten winkte Tan zu sich neben den Lastwagen. Der Oberst warf ihm nur einen kurzen Blick zu und ignorierte die unverkennbare Aufforderung. Da erst bemerkte Shan, daß der Oberst direkt vor dem Maschinengewehr stand, das auf der Ladefläche in Stellung gebracht worden war. Tan hob den Kopf und musterte schweigend das Banner.
    »Ein Mönch!« rief einer der Adjutanten entsetzt und deutete auf den Rand der Klippe, wo eine Gestalt in einem kastanienbraunen Gewand erschienen war. Sogar aus dieser Entfernungerkannte Shan sofort, um wen es sich handelte. Das also hatte Gendun mit seiner Ankündigung gemeint, er werde die Gefangenen befreien.
    »Von hier aus schwer zu sagen«, stellte Tan nach einem Blick auf Gendun fest. »Ich glaube, es ist eine Ziege.«
    Als der Adjutant sein Fernglas heben wollte, drückte ein zweiter, älterer Offizier es wieder nach unten. »Der Oberst sagt, es ist eine Ziege«, mahnte er.
    »Wir können einen Helikopter anfordern«, schlug der erste Adjutant vor. »Dann schießen wir die Halteseile durch und setzen da oben einen Stoßtrupp ab.«
    Shan merkte, daß Tan ihn ansah, und zwar auf die gleiche teilnahmslose Art wie zuvor den Buddha. Einen Moment lang schien er etwas in Shans Miene zu suchen, dann seufzte er und wandte sich an seine Adjutanten.
    »Die Hubschrauber stehen derzeit nicht zur Verfügung«, sagte er den Offizieren und deutete auf das riesige Banner. »Das da wurde zu Testzwecken von Direktor Ming veranlaßt. Man reinigt ein altes Artefakt im Wind. Sagen Sie den Männern, ich bin mit ihrer Leistung bei diesem Übungseinsatz sehr zufrieden.« Seine Züge verhärteten sich, und er erteilte mehrere schroffe Befehle. Die Soldaten liefen aus den Verstecken im Unterholz und zwischen den Felsen hervor und stiegen zu ihren Kameraden auf die Ladefläche. Der Lastwagen fuhr sofort in Richtung Norden ab. Zurück blieben nur der ältere Adjutant und die Wachposten der Häftlinge.
    »Die Gefangenen haben diese Woche außergewöhnlich hart gearbeitet«, sagte Tan barsch. »Damit ihre Anstrengungen zum Wohle des Volkes auch weiterhin produktiv bleiben, ordne ich hiermit eine einstündige Pause an.« Er befreite Shan nicht von der Handschelle, reichte ihm aber sein Fernglas. Durch die Linsen konnte Shan das Gesicht des Lama auf der Klippe ganz deutlich sehen. Neben Gendun stand Fiona in ihrem Festtagskleid und hatte den Arm um Dawa gelegt. Auch Jara war dort und mit ihm ungefähr dreißig andere Hügelleute. Irgendwo hinter Shan erklang inmitten der Bauern eine Glocke.
    Es war eine merkwürdig stille Feier. Alle Häftlinge saßennun auf dem Boden, und einige von ihnen sagten Mantras auf. Die Bauern sammelten sich an der Postenkette, Kinder zeigten auf den mächtigen Buddha, und viele der älteren Tibeter umarmten sich oder beteten. Surya ging zwischen ihnen umher und kniete immer wieder bei den Kindern nieder. Shan sah ihn lächeln. Mehr und mehr Tibeter trafen ein, manche zu Fuß, andere in schnellem Galopp zu Pferde.
    Dann fingen mehrere Bauern an, den Sträflingen über die Köpfe der Wachen hinweg Äpfel zuzuwerfen. Die Soldaten schauten verunsichert zu Tan, schritten aber nicht ein. Es war wie ein eigentümlich entrücktes Picknick, und einige Gefangene stimmten Lieder an. Der Oberst schien auf keinen Fall zulassen zu wollen, daß Shan den Häftlingen zu nahe kam, hatte aber nichts dagegen, daß er sie durch das

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