Der verlorene Sohn von Tibet
Fernglas betrachtete. Shan entdeckte zahlreiche vertraute Gesichter und sehnte sich danach, zu ihnen zu laufen. Mit Freuden hätte er die Stockschläge der Wachen auf sich genommen, nur um aus dem Mund der alten Lama noch einmal seinen Namen zu hören. Tan jedoch nahm ihm die Fessel nicht ab und sorgte dafür, daß Shan im Schatten blieb, wo die Gefangenen ihn nicht sehen konnten.
Der Oberst rauchte eine Zigarette nach der anderen, musterte schweigend die Sträflinge und dann wieder Gendun. Eine Tibeterin kam vorsichtig näher, warf Shan einen nervösen Blick zu, zog zwei Äpfel aus den Taschen ihrer Schürze und streckte sie ihnen entgegen. Tan starrte sie verblüfft an und nahm den Apfel. Sein Mund öffnete und schloß sich mehrere Male, als finde er keine Worte. »Danke«, rief er der Frau schließlich hinterher, aber so leise, daß sie es vermutlich nicht mehr hörte.
Dann warf er seine Zigarette weg, und sie aßen beide langsam ihre Äpfel. Als er aufgegessen hatte, gab Tan dem Offizier ein Zeichen. Der Mann blies in seine Trillerpfeife, und die Häftlinge standen auf. Das Banner wurde wieder nach oben gezogen.
»Ich hätte Ming beschatten lassen sollen«, sagte Tan, als sie zu seinem Wagen zurückkehrten. Ohne weitere Erklärung oder Entschuldigung befreite er Shan von der Handschelle. »Inzwischenhat er Lhadrung verlassen und befindet sich in Sicherheit. Es gibt Leute, die ihn beschützen werden.«
Shan schaute quer über das Tal. »Nein«, sagte er. »Ming ist noch nicht weg. Er weiß nichts von Dolans Tod.«
»Und das heißt?«
»Das heißt, er glaubt, er und Dolan würden sich nach wie vor ein Wettrennen um die Beute liefern. Er fürchtet, Dolan könnte sich den größeren Anteil sichern. Zwar möchte er am liebsten aus Lhadrung fliehen, doch seine Gier dürfte stärker sein als seine Angst.«
»Und das heißt?« fragte Tan noch einmal, als er auf der Rückbank Platz nahm und seinem Adjutanten das Steuer überließ.
Shan setzte sich neben ihn. »Das heißt, ich muß unbedingt zur Bezirksverwaltung.«
Eine Viertelstunde später stieg Shan in der Gasse neben dem Verwaltungsgebäude aus. Tashi drückte sich in einen Hauseingang am hinteren Ende des Platzes. »Ich muß wissen, was Ming gemacht hat, nachdem du ihm die Botschaft ausgerichtet hattest und ihr mit dem Hubschrauber zurückgeflogen wart.«
»Ich habe ihm erzählt, was du mir aufgetragen hast: Daß Dolan von dem Bergbuddha weiß und vorhat, ihn sich zu holen. Daß er seine Absicht geändert hat und nun alles zurückhaben will. Ming hat mich gefragt, wo er einen Lastwagen und ein paar kräftige Männer herbekommen könnte. Dann ist er allein in seinen Wagen gestiegen und nach Süden gefahren.«
»Nach Süden? Im Süden ist nichts.«
»Nach Süden«, wiederholte Tashi.
Shan schaute schweigend die Straße hinunter, die nach Süden führte, und lief dann zu Tans wartendem Wagen zurück. Unterwegs schilderte er, was Yao und er über Mings gefälschte Ausstellungsstücke herausgefunden hatten. Dann parkte der Adjutant im Schutz der Außenmauer, die sich rund um die ehemalige Ziegelei zog.
Sie blieben im Schatten, liefen geduckt an der silbernen Limousine vorbei und gelangten durch die offene Toreinfahrt auf das Gelände. Als sie die Laderampe am Hauptgebäude erreichten,war Lu dort soeben damit beschäftigt, das Adreßetikett einer Kiste zu überkleben. »He, ihr könnt doch nicht einfach …«, schimpfte er und griff nach der Waffe in seinem Gürtel.
Die Hand des Obersts zuckte vor. Der Kolben seiner Pistole landete krachend auf Lus Schläfe, und der Mann brach über der Kiste zusammen. Im Innern der großen Halle stand Ming mit dem Rücken zum Eingang vor mehr als zwanzig Kisten, manche geschlossen, andere offen, so daß man die Papierfetzen erkennen konnte, die als Packmaterial dienten. Der Direktor hielt ein Klemmbrett in der Hand, und aus einem kleinen schwarzen Kasten erklang westliche Rockmusik.
Tan schaltete die Musik ab. »Croft Arts and Crafts«, las er laut von dem erst kürzlich angebrachten Aufkleber der nächstbesten Kiste vor. »Shanghai.«
Ming wirbelte mit wütendem Blick herum.
»Zweifellos ein Vertragspartner des Museums«, sagte Tan.
»Selbstverständlich. Ein Fachbetrieb für Restaurierungsarbeiten«, sagte Ming verunsichert und spähte an Tan vorbei.
Der Oberst zuckte die Achseln. »Das dürfte sich leicht nachprüfen lassen.«
»Dazu sind Sie nicht befugt«, zischte Ming.
»Womöglich ist Ihnen entfallen, daß
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