Der verlorene Sohn von Tibet
Hosentasche. »Einoder zweimal im Jahr wird Post verteilt«, sagte er. »Und manchmal dürfen auch wir Briefe schreiben.«
Shan mußte um seine Fassung ringen. »Ich werde Briefe schicken. Ich bemühe mich, eine Adresse zu finden, an die du mir schreiben kannst.«
Die Tür ging auf, und zwei Soldaten traten ein. Sie hatten schwere Fußfesseln mitgebracht. Ko stand auf und ließ sich die Kette um die Knöchel legen. »Wir haben für Gerechtigkeit gesorgt«, sagte er mit plötzlichem Stolz. »Als niemand sonst es konnte.« Die Soldaten zogen ihn zur Tür.
»Bleib am Leben!« sagte Shan mit heiserer Stimme. »Du weißt, wie man am Leben bleibt.«
Ko schenkte ihm ein trotziges Grinsen und ließ sich wegführen.
Shan blieb noch einige Minuten in dem Schuppen, starrte auf den Behälter in seiner Hand und steckte ihn schließlich in den Schnürbeutel.
»Jemand ist aus den Hügeln gekommen, um McDowells Leiche abzuholen«, sagte Tan, als Shan ihn vor dem Tor traf. Der Krankenwagen mit den blinkenden Leuchten war fort, ebenso Dolans Leichnam. »Die Frau hat darum gebeten, nach England telefonieren zu dürfen.«
Als der Helikopter am nächsten Morgen beim alten Steinturm landete, warteten Lokesh und Jara bereits mit einer dicken Decke, um darin Punji McDowells sterbliche Überreste wegzubringen. Sie nickten wortlos Shan und Liya zu, als diese ausstiegen, und sahen überrascht, daß auch Corbett folgte und einen Zipfel der Decke nahm. Tags zuvor war Shan in den kleinen Konferenzraum gegangen und hatte dort am Telefon eine tränenüberströmte Liya vorgefunden, die in gebrochenem Englisch versuchte, mit Punjis Mutter zu sprechen. Er hatte sich zu ihr gesetzt und für die beiden Frauen eine halbe Stunde lang als Dolmetscher fungiert. Etwas später hatte Corbett in Shans Anwesenheit dasselbe Telefon benutzt, um erst mit Bailey und dann mit mehreren anderen Personen in Amerika zu sprechen, wobei es teilweise zu hitzigen Wortwechseln kam. Nachdem der FBI-Agent sich vergewissert hatte, daß das Wandgemälde des Kaisers sichergestellt worden war, willigte er ein, per Unterschrift zu bestätigen, daß Dolan durch einen bedauerlichen Unfall und als Held gestorben sei.
Als sie nun den Innenhof mit dem weißen Schrein betraten, standen mehr als fünfzig Tibeter feierlich schweigend Spalier. Shan erkannte einige Gesichter aus Bumpari, die meisten der Mönche aus Yerpa, viele der Hügelleute, die schon am Festtag bei dem chorten zusammengekommen waren, und sogar ein halbes Dutzend ragyapas , darunter die alte blinde Frau.
Die Mönche begannen mit der Zeremonie, sobald Shan und seine Freunde Punji McDowells Leichnam auf dem großen Scheiterhaufen abgelegt hatten, gleich neben dem Leib von Bruder Bertram. Außer der verhüllten Leiche des Abtes lagauch noch ein vierter Toter dort. Auf die Außenseite seines gefalteten Briefes hatte Yao einen letzten Wunsch geschrieben: Laßt mich in Zhoka bleiben , lautete seine Bitte.
Rund um den großen Holzstapel, dessen Balken man aus dem Schutt des gompa geborgen hatte, waren Butteropfer in Form der heiligen Symbole aufgestellt, und als Gendun ein Mantra anstimmte, in das die anderen Tibeter sogleich einfielen, entzündeten die Mönche zunächst die kleinen Buttergebilde. Es dauerte nicht lange, bis das trockene Holz Feuer fing, und schon bald wurde es dort so heiß, daß die Trauernden zehn Meter Abstand halten mußten. Die Flammen loderten hoch empor, und der Wind legte sich, so daß der Rauch senkrecht in den wolkenlosen Himmel stieg.
»Das verstehe ich nicht ganz«, sagte Corbett, nachdem sie eine Viertelstunde wortlos dabei zugesehen hatten. »Ich dachte, die Toten würden alle an die Vögel verfüttert.«
»Früher war das anders«, sagte Shan. »Bei Heiligen und großen Lehrmeistern war dies die traditionelle Form der Bestattung.« Es hatte noch einen Leichnam gegeben, aber niemand sprach mehr von ihm, außer Liya in einem hastig geflüsterten Satz. Khan war zum Totenplatz gebracht worden.
Nach weniger als einer Stunde war alles vorbei und der Scheiterhaufen zu Asche verbrannt. Liya rief, man möge sich auf dem Torhof versammeln, wo auf Decken etwas zu essen bereitstünde. Shan entdeckte dort ein vertrautes Gesicht.
»Alles Gute«, sagte Shan auf englisch. Fiona saß vor einer kleinen Kohlenpfanne und briet Holzäpfel.
»Alles Gute«, erwiderte sie. »Meine Nichte ist bei den Mönchen«, fügte sie auf tibetisch hinzu.
Ihre Großnichte, dachte Shan, als er sich umdrehte und Dawa
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