Der verlorene Troll
Halt für ihre Zehen.
»Die Mädchen sagen, ich sei feige, weil ich nicht mit ihnen den Hang runterklettere. Darf ich?«
Sie drehte den Kopf zur Seite. Die Mädchen kraxelten auf direktem Weg die Felswand hinab, um sich mit ihren Kletterkünsten zu brüsten und es Made für seine Abenteuergeschichten heimzuzahlen. Jeder junge Troll tat dies wenigstens einmal in seinem Leben, normalerweise etwa im Alter der beiden Mädchen. Aber Made war nicht wie jeder junge Troll.
»Nein«, sagte Windy entschieden. »Das darfst du nicht.«
»Aber Mama«, jammerte er. Doch er rührte sich nicht.
»Du bist ein guter Junge.«
»Ich bin kein Junge. Ich bin fast schon alt genug, um ein Erwachsener zu sein, obwohl ich noch so klein bin wie ein Baby. Deswegen will Großmutter auch, dass ich sterbe, und die anderen Erwachsenen, dass ich weggehe.«
Ein Klumpen blieb in ihrem Hals stecken, groß wie ein Stein. »Und was denkst du darüber?«
»Ich sage ihnen, dass du nicht zulässt, dass man mir weh tut.« Er schmiegte sich an sie. »Weil du das nicht tust.«
Sein Gewicht auf ihrer Schulter wurde schwerer, während sie ihren Weg nach unten fortsetzte. Die Luft um sie herum veränderte sich, aufgeladen vom Prickeln des nahenden Tagesanbruchs. Als sie den Fuß des Steilhangs erreichte, keuchte sie. Sie schaute nach oben und sah, wie die Sonne auf den obersten Gipfel des Felshangs schien. Die Wand dort hatte die blaugrauen Farben der Nacht abgestreift und präsentierte sich nun in dramatischen Schattierungen von rot und orange, durchsetzt von weißen Streifen. Sie schien zu glühen wie ein Feuer.
Da bemerkte Windy die beiden Mädchen. Sie hatten das Licht vor ihr gesehen und hingen nun in einer Höhe von etwa fünfzig oder sechzig Fuß wie erstarrt in der Felswand, die eine ein Stück über der anderen.
»Los, kommt runter«, brüllte sie ihnen zu. »Beeilt euch!«
»Ich kann nicht!«, rief Blume. Steinchen weinte nur.
Ihre Mütter hatten ihr Fehlen ebenfalls bemerkt und waren auf dem Weg zu den Höhlen stehengeblieben. Blumes Mutter Laurel rief den anderen Trollen etwas zu und bat um Hilfe. Windy kannte sie nicht sehr gut, aber zu Kinderzeiten war sie mit Steinchens Mutter Wolke befreundet gewesen. Wolke rannte nun zu Windy und rief den Mädchen zu: »Kommt runter! Der Tag sperrt schon sein Maul nach euch auf!«
Und so war es tatsächlich; Sonnenlicht perlte über die Felsoberfläche, und die Nacht am Fuß der Felswand wurde dünn; bald würde die Dunkelheit nicht mehr ausreichen. Nervös marschierte Windy hin und her.
Wolke versuchte, zu ihrer Tochter emporzuklettern, aber der untere Bereich des Hangs war zu oft bestiegen worden - die Steine waren lose und staubig und bildeten ein Gefälle aus Geröll, das das Gewicht eines ausgewachsenen Trolls nicht trug. Sie kam gerade mal zwanzig Fuß weit, dann gab das Gestein unter ihr nach, und sie rutschte in einem Hagel aus Schotter und Steinen wieder hinunter.
»Schaut nicht nach oben!«, schrie Windy den Mädchen zu, aber es nutzte nichts. Ihre Augen hingen wie gebannt am Himmel, während sich die Zähne der Sonne über die zerklüfteten oberen Regionen des Felsens vorschoben. Windys Herz klopfte wie rasend vor Sorge. Sie drehte sich zu den anderen Trollen um und sah sie streiten.
»Jemand muss den Pfad nach oben gehen und seitlich zu ihnen rüberklettern«, schlug ein großer Troll namens Stumpf vor.
»Um dort von der Sonne erwischt zu werden?«, entgegnete ein anderer. »Auf keinen Fall!«
»Lasst sie doch da hängen«, schlug jemand anderes vor. »Ehe die Sonne sie erreicht, werden sie schon runterkommen.«
»Und wenn nicht?«, fragte Laurel. »Was passiert dann mit meiner Blume?«
»Sollen sie doch springen«, sagte Ambrosius, dessen Mitgefühl über die Jahre an Made abgestumpft war.
»Wir können sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen.« Die tiefe Stimme von Windys Mutter übertönte die anderen. »Diese Mädchen sind wichtig für die Horde.«
»Lasst uns abstimmen«, sagte Stumpf. »Diejenigen, die dafür sind, die beiden zu retten… «
Bis die Horde entschied, etwas zu unternehmen, würde es zu spät sein. Windy war klar, dass sofort etwas passieren musste, aber sie wusste nicht was.
Made regte sich an ihrer Schulter. »Was ist los, Mama?«
»Die Mädchen stecken da oben in der Felswand fest. Sobald die Sonne sie erreicht, werden sie einschlafen und hinunterfallen. Und selbst wenn sie sich festhalten könnten, würde die Sonne sie zusammenschrumpeln
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