Der verlorene Troll
aufzupassen, dennoch machte sie sich Sorgen, wenn er bei Tageslicht verschwand. Sie hätte ihn gerne aufgehalten, wusste aber, dass sie das nicht konnte.
Mit Schmerzen in Rücken und Schultern setzte sie ihren Weg zu den Schwarzwasserfällen fort. Es hatte ihr nicht gut getan, gestern so lange nach ihm zu suchen, bis sie sich bei Tagesanbruch schließlich unter den Wurzeln eines windschiefen Baumes eingraben musste. Einen Tag lang derart zusammengekrümmt zu ruhen, hätte jedem Troll Rückenschmerzen beschert. Ihr Magen knurrte und erinnerte sie daran, dass sie seit mehr als einer Nacht nichts mehr gegessen hatte außer ein paar Pilzen, die sie unter modernden Wurzeln aufgespürt hatte.
Es war ein hartes Jahr gewesen, mit einem späten Frost, der die meisten Blüten erfrieren ließ, gefolgt von einem trockenen Sommer, in dem die spärlichen überlebenden Früchte verdorrten. In den letzten Jahren waren immer weniger Tiere über die hohen Pässe gekommen, und es gab herzlich wenig Aas. Um dieses bisschen balgten sich auch Direwölfe, Löwen und große Vögel, sodass ein Troll nur dann einen anständigen Bissen ergatterte, wenn er als Erster darüber stolperte. Das alles hatte sie Made erklärt, worauf er sagte, er habe eine Idee und würde später wieder zu ihr zurückkehren. Doch nun war er bereits zwei Nächte lang weg. Wenn sein Plan vorsah, von den Wölfen zu stehlen, würde er selbst als Aas enden.
Wieder schnupperte sie.
Er hatte versprochen, sie bei den Wasserfällen zu treffen. Vielleicht wartete er dort auf sie, und sein Geruch hatte sich im Wasserdunst verflüchtigt. Sie eilte weiter und kam durch einen kleinen Kirschhain. Die wenigen Früchte, die er trug, hatte er schon vor Monaten abgeworfen. Dennoch lief Windy bei dem Gedanken an die süßen Früchte das Wasser im Mund zusammen. Hinter den Kirschbäumen wuchsen Ahorne, deren Blätter im beginnenden Herbst allmählich vertrockneten. Sie stieß auf einen Baum mit einer unbekannten Duftmarke, blieb stehen und leckte an dem Fleck. Ein junger, männlicher Troll, der sein Gebiet markiert hatte und danach gierte, sich zu beweisen. Eine weitere Gefahr für Made.
Sollte Frostys Horde in der Nähe sein, erforderte es die Höflichkeit, ihre Ankunft anzukündigen. Windy richtete sich auf und trommelte eine Begrüßung auf ihren Brustkorb, ein dumpfes Geräusch, das die Luft im Umkreis einer Meile erzittern ließ. Bam-ba-da-dam-dam. »Ein Fremder, aber ein Freund«, verkündete dieses Trommeln allen, die lauschten.
Sie war nicht ganz fremd, da sie mit Made schon früher durch diese Gegend gezogen war. Aber sie gehörte auch nicht zur Horde.
Sie gehörte zu keiner Horde.
Seit zu vielen Jahren lebten Made und sie schon ohne Wurzeln, von Ort zu Ort getrieben wie Blätter in einem Sturm. Aber wenn die Alternative hieße, ihren Sohn zu verlieren, nahm sie das gern in Kauf.
Sie wiederholte den Gruß und kauerte sich nieder. Während sie auf Antwort wartete, stocherte sie zwischen den langen Grashalmen und dem Laub, auf der Suche nach etwas Essbarem. Als sie nichts fand, trottete sie weiter. Durch das Brausen des Wasserfalls war ihr Trommeln vermutlich sowieso nicht zu hören.
Der Dreiviertelmond stand auf seinem Zenit und überzog die Landschaft mit fahlem, farblosen Licht. Keine gute Nacht, um unterwegs zu sein. Die Panik, die in ihr aufstieg, wurde von dem dichten Blätterbaldachin gedämpft und von der Sorge um Made und dem Hunger in ihrem Bauch überlagert. Das Mondlicht blendete nicht, schmerzte aber in ihren Augen, als sie das offene, felsige Gelände am Wasserfall erreichte.
Vor ihr stürzte das Wasser sechzig Fuß in die Tiefe, die Hälfte davon ein einziger, steiler Fall. Blumen aus Sprühnebel blühten auf den dunklen, schwarzen Steinen. In der Mitte des Wasserfalls ragte ein dreieckiger Sims hervor, der an einer Seite mit dem steilen Gefälle verschmolz. Die Melodie des Wassers änderte sich, sobald es über den Felsvorsprung strömte und auf die zahllosen Steine darunter traf.
Unappetitliche Farne und Ranken überwucherten den Hang zwischen den hohen Fichten und Helmlocktannen, deren Duft sie schon von weitem gerochen hatte. Ein Dunstschleier hing in der Luft und befeuchtete ihre trockene, rissige Haut. Trotz der Gefahr durch das Mondlicht und die Trollhorde, die sie noch nicht gesehen hatte, stapfte Windy in den kleinen Teich hinein und watete zu dem höhlenkalten Wasser direkt unter dem Wasserfall. Es linderte ihre Schmerzen und riss sie ein wenig
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