Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Troll

Der verlorene Troll

Titel: Der verlorene Troll Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Coleman Finlay
Vom Netzwerk:
bestimmt nicht getan«, sagte Blume.
    »Hab ich wohl!«
    »Aber er hat sich nicht in Stein verwandelt«, widersprach Blume.
    »Nein. Mama hat ihm die Decke vom Kopf gezogen und ihn geweckt.«
    Windy lächelte. Genau das hatte sie getan, jedes Mal, wenn Made Ambrosius diesen Streich spielte. Während die Kinder weiter plauderten, bewunderte sie, wie geschickt Made die Mädchen mit der Geschichte abgelenkt und ihre Hänseleien damit beendet hatte. Und auf einmal dämmerte ihr, dass Made die Mädchen ebenfalls hänselte, indem er sie daran erinnerte, dass er alle möglichen Orte gesehen hatte, die sie nicht kannten. Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, er könnte bereits schlauer sein als sie - wenn man von elf an rückwärts zählte und vier wegnahm, dann blieben sieben. Und sieben waren weniger als acht. Sie seufzte. Er war mindestens fünf oder sechs Jahre alt, groß genug, um für sich selbst zu sorgen. Sie hatte getan, was sie konnte, ihn gelehrt, wie man Aas suchte und andere Nahrung, wie man grub und kletterte, und ihm die Geschichte und die Bräuche ihres Volkes erklärt. Er hatte alles in sich aufgesaugt wie ein See, der einen Fluss leertrank. Nur eines konnte sie nicht tun: ihn dazu bringen, schneller und mehr zu wachsen.
    Sie packte Made und setzte ihn zu Boden. »Nun geh schon«, sagte sie und nahm das Fell, ehe es von seinen Schultern rutschte.
    »Danke, Mama!« Er strahlte sie an wie der Mond, so hell, dass sie fast die Augen schließen musste, dann flitzte er los und rannte neben den Mädchen her, so schnell ihn seine kleine Beine trugen. Es sah lustig aus, wie er aufrecht auf seinen zwei Füßen lief und die Arme schwang, obwohl sie zu kurz waren, um den Boden zu berühren. Die Mädchen wurden langsamer und passten sich seinem Tempo an.
    »Es ist eine Missgeburt«, zischte ihre Mutter, die wieder an ihre Seite geschlüpft war. »Ein Tier.«
    Windy ließ ihn nicht aus den Augen. »Egal, wie du ihn nennst, er ist immer noch mein Sohn.«
    Mehrere Meilen lang trabten sie ununterbrochen bergab. Der Pfad bot immer wieder kurze Ausblicke auf das Flusstal weit unten, und vor ihnen ragten die Berge des fernen Westens auf. Sie hatten ihr Ziel schon fast erreicht, da kam Made angerannt und zog an ihrer Hand. »Mama, ich bin müde.«
    »Komm, ich trage dich.« Sie streckte den Arm aus. Aber er kletterte nicht hinauf, sondern zog wieder an ihr. Wenn er sogar dafür zu müde war, musste er wirklich erschöpft sein. Sie nahm ihn hoch und setzte ihn auf ihren Rücken, wo er sich ganz fest an ihren Hals klammerte.
    »Wohin gehen wir?«, fragte er.
    »Wir verbringen den Tag in den Höhlen, am Fuß dieser Felsen.«
    »Welche Fe- «
    Er verstummte mitten im Wort, als sie den Gipfel einer steilen, neunhundert Fuß tiefen Felswand erreichten.
    »Unglaublich.« Er sagte es so leise, dass sie das Wort nur wie einen Hauch an ihrem Nacken spürte.
    Ein Pfad wand sich in Zickzackkurven die Felswand hinunter. Die älteren Trolle stiegen rasch hinab und gruben dort, wo der Fels Abkürzungen zuließ, ihre Zehen und Finger in den Stein. Diejenigen, die das Brombeerdickicht zuerst verlassen hatten, waren bereits unten angelangt, als Windy mit dem Abstieg begann und sich gegen die Felswand presste. »Halt dich gut fest«, befahl sie Made.
    Er schmatzte, eine Trollgeste der Zustimmung, rieb seine Stirn an ihrem Nacken und drückte sich fest an sie.
    Sie wählte den einfachsten Weg den Steilhang hinunter. Dieser Ort war den Trollen heilig. Nach den Geschichten, die ihre Mutter erzählte, waren die Trolle damals, als die Welt noch von Schnee bedeckt war, unterirdisch geboren worden, von der Erde selbst, in tiefen Höhlen, wo sie im Wasser lebten und sich von Fischen und Insekten ernährten, die darin schwammen. Die meisten Trolle waren davon überzeugt, dass die Höhlen am Fuß dieses Felshangs diejenigen waren, aus denen ihr Volk einst emporgestiegen war wie Säuglinge aus dem Schoß der Mutter, ehe sie in die größere Welt eintraten.
    Es war immer noch ein sicherer Ort; die Höhlen erstreckten sich meilenweit unter den Bergen, so tief, dass weder Menschen noch Raubtiere sie jemals finden könnten. Sämtliche Gegenstände, die die Trolle den Menschen im Lauf der Zeit gestohlen hatten, wurden dort verwahrt, Unmengen davon, so gut versteckt, dass viele schon mehrere Trollleben lang nicht mehr gezählt worden waren.
    »Du, Mama?«
    »Mmmm?«, fragte Windy, das Gesicht zum Fels gewandt, den Fuß ausgestreckt, auf der Suche nach dem nächsten

Weitere Kostenlose Bücher