Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
in einer Situation wie dieser war ich zu vielem fähig. Im Bruchteil dieser Sekunde fiel mein Blick unfreiwillig auf das Foto in dem Rahmen auf ihrem Tisch. Meine Netzhaut fing das Abbild eines älteren, lächelnden Mannes mit Bart auf, der seinen Arm um die Schultern zweier junger Männer zwischen zwanzig und dreißig geschlungen hatte. Die typische glückliche Familie im American style. Und Doris Day wagte es, meinen Bruder zu beschimpfen. Den ehrlichsten und anständigsten Menschen, der mir je begegnet war. Die einzige Diebin, die es hier gab, war sie selbst, da sie sich auf die schmutzigste Art Daniels Arbeit bemächtigen wollte.
    »Hören Sie, Doctora« - drohend betonte ich jede Silbe. »Ich verliere nicht häufig die Fassung, aber wenn Sie andeuten wollen, daß mein Bruder Daniel ein Dieb ist, wird unser Gespräch hier unangenehm enden.«
    »Es tut mir leid, daß Sie es so verstehen, Señor Queralt ... Ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie diese Unterlagen nicht wieder mitnehmen werden.« Die Doctora bewies Mut. »Wenn Daniel gesund wäre, würde ich ein langes Gespräch mit ihm führen. Und ich bin sicher, wir würden eine Lösung für diese unangenehme Angelegenheit finden. Aber da er krank ist, muß ich mich darauf beschränken zurückzufordern, was mir gehört. Ich möchte Sie bitten, dies zu respektieren und über die Angelegenheit zum Besten Ihres Bruders Stillschweigen zu bewahren.«
    Ich lächelte und bemächtigte mich mit einem schnellen Griff der Dokumente, die sie so auf den Tisch gelegt hatte, daß sie vermutlich außerhalb meiner Reichweite seien. Dummes Geschwätz und erst recht Beleidigungen hatte ich noch nie ausstehen können, und wenn irgendein Idiot - oder eine blöde Kuh, wie in diesem Fall - meinte, mich an der Nase herumführen und verhindern zu können, daß ich tat, was ich wollte, dann war das ein gewaltiger Irrtum.
    »Hören Sie gut zu, Doctora. Ich bin nicht hergekommen, um mich mit der Vorgesetzten meines Bruders anzulegen. Ich werde es aber auch nicht zulassen, daß Sie hier einen Film abziehen und Daniel als Dieb hinstellen und sich selbst als das arme, hilflose Opfer. Tut mir leid, Señora Torrent, ich nehme dies alles wieder mit.« Ich sprach’s und steckte sämtliche Fotokopien und Reproduktionen in meine Aktentasche. Dann wandte ich mich zur Tür. »Wenn es meinem Bruder bessergeht, werden Sie sicher gemeinsam eine Lösung finden. Guten Tag.«
    Mit einem Ruck öffnete ich die Tür, eilte hinaus und schlug sie hinter mir zu. Es war niemand mehr im Institut. Meine Kapitän-Haddock-Uhr zeigte an, daß es fast halb drei war. Essenszeit und - warum nicht - Gelegenheit, sämtliche mir bekannten Schimpfwörter auf diese dumme Kuh abzuladen. Wie mußten ihr die Ohren klingeln in den vierzig Minuten, die ich brauchte, um nach Hause zu kommen und sie für immer aus meinem Leben zu streichen.
    Ich fuhr nicht zum Spiel und vermißte es noch nicht einmal. Statt dessen verbrachte ich den Nachmittag im Krankenhaus bei Daniel und ging abends mit Jabba, Proxi und Judith essen. Judith war eine Freundin von Proxi. Ich war vor Jahren ein paar Monate mit ihr zusammengewesen. Sie war ein großartiger Mensch, dem man auf jeden Fall vertrauen konnte. Doch auch wenn dem nicht so gewesen wäre, es spielte keine Rolle, weil Proxi ihr bereits alles erzählt hatte, noch bevor wir uns im Restaurant trafen. Vor vollendete Tatsachen gestellt, schwelgte ich in meiner Kritik an der Doctora, und die Witze, die ich über sie machte, ließen meinen Ärger verfliegen. Schade war nur, daß ich an jenem Abend das Haus voll hatte mit Leuten, die behaupteten, meine Verwandten zu sein, was Judith daran hinderte, mit zu mir zu kommen. Die Chemie zwischen uns stimmte noch, und keiner von uns ließ gern eine gute Gelegenheit aus. Aber, na ja, es war nicht mein Glückstag, und so blieb es dabei. Um mich aufzumuntern und da ich auch um zwei Uhr morgens noch nicht müde war, beschloß ich, daß der Augenblick so gut war wie jeder andere, um mich endlich auf die verflixten Chroniken der spanischen Konquistadoren einzulassen. Zumal die Firmencomputer immer noch nach Daniels Paßwort suchten. Für mich ging es inzwischen um mehr als um die Bestätigung einer extravaganten Theorie: Die Sache war zu einer Herausforderung geworden, eine Frage der Loyalität meinem Bruder gegenüber. Ich hatte versagt, als ich seine Arbeit seiner Chefin zum Fraß vorgeworfen hatte, und mußte das irgendwie wiedergutmachen. Wenn Daniel genesen wäre -

Weitere Kostenlose Bücher