Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorene Ursprung

Der verlorene Ursprung

Titel: Der verlorene Ursprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
Vom Netzwerk:
Tiahuanaco getroffen und eine Karte gezeichnet, der mein Bruder Bedeutung zumaß. Sarmiento de Gamboa war direkt nach Fertigstellung dieser Karte von der Inquisition wegen Herstellung einer magischen Tinte verhaftet worden. Wieder stieß ich auf die Magie der Worte, das Supercalifragilisticexplialigetisch, das Proxi so gefiel.
    Sicherlich lagen diese Notizen meines Bruders deshalb im ersten Band von Guamans Neuer Chronik, weil sie irgend etwas mit dem zu tun hatten, was der Indio Felipe Guaman auf fast zweihundert Seiten niedergeschrieben hatte, um die Lügen im Bericht der Generalvisite zu entkräften. Ich faßte also Mut, warf einen Blick auf die Uhr - es war fast vier Uhr morgens - und begann zu lesen. Ich war nicht müde, aber selbst wenn ich es gewesen wäre, die bemerkenswerten Illustrationen des Buches hätten mich auf der Stelle wachgerüttelt. Gewöhnt an die modernen, bewegten Computerbilder in Millionen von Farbabstufungen, mit denen man die Wirklichkeit virtuell nachbilden konnte, waren die derben Zeichnungen in schwarzer Tinte von Guaman Poma für mich ein Schock. Als hätte ein gewaltiger Kurzschluß die Festplatte in meinem Hirn gelöscht, saß ich entwaffnet über jenen skizzenhaften Bildern, von denen insgesamt vierhundert in den Text eingefügt waren. Sie erinnerten an einen Comic, in dem sich die Handlung aus einer Abfolge von Einzelbildchen entwickelt - mit dem einzigen Unterschied, daß dieses Werk ungefähr vierhundert Jahre alt war.
    Zunächst fiel mir eine Darstellung Viracochas auf, der in Guamans Quechua Vari Vira Cocha Runa hieß. Er stand mit Blättern bekleidet unter einer leuchtenden Sonne, deren freundlicher Gesichtsausdruck mich an einen dieser Smileys oder Emoticons erinnerte, von denen es im Netz nur so wimmelt, weil man mit ihnen auf schnelle und einfache Art einen Gemütszustand oder eine innere Haltung ausdrücken kann. Soweit ich es im Blick hatte, wiesen alle von Guaman gezeichneten Sonnen Gesichter auf, die wie Emoticons ihre Einschätzung der von ihnen beleuchteten Szene zum Ausdruck brachten. Aber das Auffälligste an der Zeichnung war das Bärtchen, das Guaman Viracocha verpaßt hatte, um zu verdeutlichen, daß dieser kein einfacher Indio, sondern göttlichen Ursprungs war: Es bestand aus vier Schnurrbarthaaren und einem Kinnbärtchen, wie ich eines trug. Außerdem fiel das Schild mit dem ersten königlichen Wappen oder Wahrzeichen der Inka auf. Offensichtlich orientierte sich die Form eher an den spanischen Schilden als an den rechteckigen Walqanqa, aber es war etwas Geniales an dieser Mischung aus einer kreuzweise geviertelten Fläche, die von barocken Girlanden umschlossen war, und den naiven Abbil-dungen der bärtigen Sonne Inti, des Mondes Quya, des blitzenden, sechzehnzackigen Sterns Willka und eines Gottes in Menschengestalt auf einem Hügel.
    Betäubt vom schwarzweißen Bilderrausch und einem Detailreichtum, in dem man sich verlieren konnte, übersah ich zunächst das phosphoreszierende Gelb der von meinem Bruder hervorgehobenen Textfragmente - mir war, als hätte ich hinter dem Lenker in aller Ruhe eine rote Ampel überfahren. Es gibt eben Bilder und Bildstile, Klänge, Aromen und Texturen mit der mächtigen Eigenschaft, uns der wirklichen Welt zu entreißen. Und erst nachdem ich mich vom ersten Eindruck erholt hatte, bemerkte ich, daß Daniel mir wieder einmal den Weg gewiesen hatte, indem er die wichtigen Worte, Sätze und Absätze gelb markiert hatte.
    Seine erste Markierung befand sich neben der Abbildung eines weiteren barocken Schildes mit dem zweiten königlichen Wahrzeichen (einem Vogel, einer Art Palme, einer Troddel und zwei Schlangen) und hob die Aussage hervor, daß >sie<, also die Inka, >aus der Lagune des Titicaca und aus Tiahuanaco< gekommen seien. Die ursprünglichen acht >Ynga<-Geschwister seien aus dem >Collau< aufgebrochen und in Cuzco angekommen, wo sie die Stadt gegründet hätten. Im nächsten Absatz behauptete Guaman - mit der gallegelben Unterstützung von Daniel C. - nicht mehr und nicht weniger, als daß alle, die Ohren hätten, Inka hießen, und alle anderen nicht. Im ersten Moment beunruhigte mich die Vorstellung, daß die über neunundzwanzig Millionen Bewohner des Tihuantinsuyu, die nicht zur Königsfamilie gehörten, sozusagen ohrlos gewesen sein könnten. Doch sofort erinnerte ich mich an die Legende, daß die direkten Nachfahren der Kinder Viracochas zum Adel gehörten, dessen Angehörige sich durch riesige goldene Scheiben in den

Weitere Kostenlose Bücher