Der verlorene Ursprung
hat, wird de facto täglich unwahrscheinlicher . Jedenfalls waren einige Jahrhunderte später diese Siedlungen zu einem Imperium angewachsen. Das Huari-Reich entstand später, im Ayacucho-Tal im Norden, und stellte sich aus unbekannten Gründen Tiahuanaco entgegen, das eine vorrangig religiöse Kultur gewesen sein muß, die von einer Art Priesterkaste beherrscht wurde.
Also, wir wissen wenig über die Huari. Von den Inka sind sie nie erwähnt worden. Ach ja, wahrscheinlich wissen Sie nicht, daß es ein großer Fehler ist, sämtliche Einwohner des Inkareiches als Inka zu bezeichnen. Die Inka waren die Könige und hielten sich für Nachkommen einer göttlichen Rasse aus Tiahuanaco.«
»Doch, das weiß ich. Demnach«, rekapitulierte ich, »haben die privilegierten Klassen der andinen Kulturen, die älter sind als die Inka, sich die Schädel in der einen oder anderen Weise verformt. Sie wollten die Tiahuanaco imitieren, die eine Art Autorität in Sachen Eleganz waren. Aber Sie haben mir noch nicht verraten, woher diese konischen Schädel hier stammen.«
Ich deutete mit dem Zeigefinger an die Decke. »Aus Tiahuanaco?«
»Ganz genau. Die Deformation, die diese konische Form hervorruft, war historisch gesehen die erste, die durchgeführt wurde, und zwar exklusiv von den Tiahuanaco.«
»Und die Inka? Praktizierten sie keine Schädeldeformation?«
»Nein, sie nicht. Die einzigen, die sie weiterführten, waren die Colla, die Nachfahren der früheren Bewohner Tiahuanacos.«
»Die Colla?« In meinem Kopf herrschte bereits ein hoffnungsloses Durcheinander. »Aber sind nicht die Aymara die Nachfahren der Tiahuanaco?«
»Colla und Aymara sind dasselbe Volk. Die Spanier haben sie Colla genannt, nach El Collao, wie sie ihr Territorium getauft hatten, die Hochebene rund um den Titicacasee. Das war eine Ableitung von Collasuyu, dem Inka-Namen für das Gebiet. Auch die Höhenzüge Boliviens und der Norden Argentiniens gehören dazu. Die Schädel, die Sie hier sehen, sind aus Collasuyu, genauer gesagt eben aus Tiahuanaco.«
Die Geschichte des amerikanischen Kontinents war zweifellos glasklar und simpel. Am Anfang standen die Pukara - oder auch nicht -, aus denen die Tiahuanaco hervorgingen - oder auch nicht -, die ihrerseits mit den Aymara identisch waren, aber auch mit den Colla, die jedoch inzwischen wieder Aymara hießen. Das verstand ich zumindest und hämmerte es mir ins Gedächtnis, bevor es verschwamm wie ein wirrer Traum.
Angesichts der durchaus realen Gefahr, daß sich die Dinge endlos weiter verkomplizieren könnten, beschloß ich, daß ich von deformierten Totenschädeln genug hatte. Kurzentschlossen zog ich aus dem Haufen von Daniels Fotokopien das Bild der Steinmauer mit den unzähligen eingesetzten Köpfen heraus und reichte es der Doctora. Doctora Torrent drückte ihre Zigarette in dem mickrigen Aschenbecher aus, als wollte sie die Kippe ermorden. Ihr mißfiel eindeutig, was sie sah.
»Wissen Sie, was das ist, Doctora?«
»Tiahuanaco«, sagte sie irritiert, setzte sich mit schneller Bewegung die Brille auf und untersuchte das Bild aufmerksam. Warum nur überraschte mich ihre Antwort nicht? »Die sogenannten steinernen Nagelköpfe, das heißt in die Wände eingesetzte anthropomorphe Steinköpfe. Sie finden sich an den Mauern des Qullakamani Utawi, der als halbunterirdischer Tempel bekannt ist, einem großen offenen Hof in der Nähe des Kalasasaya-Tempels. Sie wissen ja bereits, daß Tiahuanaco eine Ruinenstadt ist, in der noch die Überreste von ungefähr sechzehn Gebäuden sichtbar sind. Das entspricht nur vier Prozent der Gesamtanlage, der Rest liegt unter der Erde.«
Ich wußte nicht, was dieses offensichtliche Unbehagen ausgelöst haben konnte, das die Doctora höflich zu verbergen suchte. Ich gab ihr die digitalisierte Vergrößerung des körperlosen Männchens, dieses bärtigen Vorfahren von Humpty Dumpty aus Alice im Wunderland. Ich durfte sie nicht weiter nach Tiahuanaco fragen, schrieb ich mir hinter die Ohren. Was ich wissen wollte, würde ich im Internet suchen, insbesondere Seiten mit Fotos.
»Ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie mit einem Blick über den Brillenrand. »Das habe ich noch nie im Leben gesehen.«
»Nicht von den Inka?« fragte ich überrascht.
Sie untersuchte das Bild eingehend, indem sie es abwechselnd ganz nah vor die Augen und dann wieder ganz weit weg hielt.
Entweder hatte ihre Brille einen Wackelkontakt wie eine schlecht eingeschraubte Glühbirne, oder sie mußte
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