Der verlorene Ursprung
dringend zum Augenarzt.
»Nein, das stammt nicht von den Inka«, versicherte sie. »Weder von den Inka noch den Pukara, noch den Tiahuanaco, noch den Huari, und schon gar nicht von den Aymara.«
»Und haben Sie eine Ahnung, woher es dann kommen könnte?«
Sie betrachtete erneut aufmerksam das Bild, spitzte die Lippen wie zu einem Kuß und verharrte hochkonzentriert eine Weile. Leider löste sich die Pose in nichts auf, und ich schluckte mein Lachen herunter wie man versehentlich einen Kaugummi verschluckt.
»Ich kann Ihnen nur sagen, daß es zu figurativ ist. Die Person ist zu genau gezeichnet, mit sehr lebendigen Farben und Schatten und Abtönungen, die Volumen verleihen. Und der Bart versetzt sie eindeutig nach Europa oder Asien. Das Bild kann nicht vor dem 14. Jahrhundert entstanden sein. Es sieht aus wie ein Ausschnitt aus einem viel größeren Bild, denn an den Rändern taucht etwas wie eine Landschaft aus Steinen und Zweigen auf. Das einzige, was mir irgendwie bekannt vorkommt, ist dieser rote Hut, der den typischen Colla-Mützen ähnlich zu sein scheint, mit denen die deformierten Schädel bedeckt waren. Schauen Sie sich mal die Figuren dort an«, ermunterte sie mich und deutete auf eine Reihe kleiner Skulpturen mit becherförmiger Kopfbedeckung. »Wenn Sie wollen, finden Sie genauere Abbildungen in Guaman Poma de Ayalas Die Neue Chronik und gute Regierung. Ihr Bruder hat sicher ein Exemplar.«
»Stimmt«, sagte ich, während ich das Männchen mit der einen Hand wieder entgegennahm und ihr mit der anderen die Kopie des Quadratgesichts mit den Sonnenstrahlen reichte.
»Tiahuanaco«, wiederholte sie mit einem flüchtigen Blick auf das Bild. Ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich wieder, ebenso wie ihre eigentümliche Stimme. »Inti Punku, das Sonnentor. Jahrhundertelang glaubte man, diese Figur, die das Tor krönt, sei eine Darstellung des Gottes Viracocha. Die Ausgrabungen von Huari haben diese Annahme erschüttert, und heute wird lieber von einem unbekannten Zeptergott gesprochen, der in beiden Kulturen verehrt wurde.«
»Deshalb kam es mir so bekannt vor«, bemerkte ich und beugte mich leicht über den Tisch, um das auf dem Kopf stehende Bild zu betrachten. »Das Sonnentor. Es ist sehr bekannt.«
Sie stand auf, als ob ihr etwas Wichtiges eingefallen wäre, und trat an eines der Regale, zog ein großes Buch heraus und legte es vor mir auf den Tisch. Es war einer dieser Fotobände fast ohne Text, auf dessen aufgeschlagener linker Seite ich sogleich die Abbildung eines Steinblocks mit einer Toröffnung entdeckte, über der drei horizontale Streifen in den Stein gehauen waren. Diese wurden durch eine große zentrale Figur unterbrochen, deren Gesicht offensichtlich dasjenige war, welches Daniel vergrößert fotokopiert hatte. Auf der rechten Seite war dieselbe Figur detailgetreu in riesigem Maßstab abgebildet, so daß ich nicht nur das Gesicht betrachten konnte, sondern überraschenderweise auch, was sie unter den Füßen hatte -wenn man die beiden Stummel, die ihr aus dem Bauch wuchsen, als Füße bezeichnen konnte. Und das war nichts anderes als die dreistufige Pyramide, die mein Bruder mit rotem Filzstift gezeichnet hatte. Warum hatte Daniel ausgerechnet den Kopf vergrößert und den Boden unter dem Zeptergott in Rot nachgezeichnet?
»Hier sehen Sie das Sonnentor noch einmal, das auf Quechua Inti Punku heißt und auf Aymara Mallku Punku, oder auch das Tor des Kaziken«, erklärte sie mir.
Da ich abgelenkt war, wußte ich nicht, was für ein Gesicht sie gerade machte, aber ihre Stimme klang derart düster und grollend, daß ich die Augen von den Buchseiten abwandte. Fasziniert mußte ich feststellen, daß ihr Gesicht so reglos war wie das einer Statue. Nur die Hände waren vor Anspannung zu Fäusten geballt.
»Das berühmteste Bauwerk der Ruinen von Tiahuanaco. Ein Monolith aus Vulkangestein, der über dreizehn Tonnen wiegt und etwa drei Meter hoch, vier Meter breit und fünfzig Zentimeter dick ist. Die Meißelführung ist perfekt, absolut präzise ... Die Archäologen und Spezialisten können sich noch nicht erklären, wie ein Volk das zustande gebracht hat, das weder das Rad noch die Schrift, noch das Eisen kannte und, was noch verblüffender ist, auch nicht die Null, die für astronomische und architektonische Studien immens wichtig ist.«
Vielleicht war Marta Torrent eine harte Frau, vielleicht sogar eine Hexe - Ona irrte sich vermutlich keineswegs in ihrem Urteil. Allerdings hätte ich
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