Der verlorne Sohn
sie ihm mit der Hand auf den Mund, aber so, daß es ihm ja nicht wehe thun konnte, und dann antwortete sie:»Was hat man vom Küssen! Geh doch!«
»Was man vom Küssen hat? Hm! Den guten Geschmack und dazu dann das Vergnügen!«
»Ah! Du denkst wohl, Du schmeckst sehr gut?«
»Etwa nicht?«
»Hm! Ich weiß es nicht.«
»So probire doch einmal, Mariechen!«
»Ich bin nicht neugierig.«
»Aber ich desto mehr!«
»Worauf?«
»Wie Du schmeckst. Darf ich probiren?«
»Nein.«
»Auch nicht ein aller-, aller-, allereinziges Mal?«
»Hm! Wenn Du mir versprichst, daß es dabei bleiben soll.«
»Ganz gewiß, ganz gewiß! Aber nun gieb auch rasch Dein liebes, kleines, süßes Mäulchen her!«
»Da hast Du es! Aber blos geborgt!«
»Schön! Ja! Na, komm!«
Es ließ sich ein eigenthümliches Geräusch vernehmen, ganz so, wie man es in gewissen Jahren, an gewissen Orten und bei gewissen Personen zu lieben und zu üben pflegt, und dann – fuhr Marie auf einmal sehr rasch mit dem Köpfchen zurück und rief schmollend:»Geh, Ungehorsamer! War das denn nur Einer?«
»Ja freilich! Wie viele denn sonst?«
»Fünf oder sechs. Es können sogar auch acht gewesen sein.«
»Welch ein Irrthum! Wie zählst Du nur heut wieder einmal! Komm! Ich will Dir ganz genau zeigen, wie es gewesen ist, und dann sollst Du mir sagen, ob es wirklich nur sechs oder acht waren. Ich denke nämlich, es müssen zwölf oder sechzehn gewesen sein.«
Und nun thaten sie, als ob sie zählen wollten, aber es fiel ihnen ganz und gar nicht ein. Wer die Küsse zählt, der ist noch viel schlimmer dran als Derjenige, welcher die Kirschen zählt, welche er ißt; der eigentliche
Haut goût
, das Mousseux geht ganz und gar dabei verloren. Und wer es ohne Zahlen und Ziffern nicht vermag, der thut am klügsten, gleich zu multipliciren, da kommt doch zuletzt ein artiges Sümmchen heraus.
So hielten sich die beiden jungen Leutchens also fest umschlungen. Ihre Herzen waren so froh und voller Blumen wie der Zitzüberzug, auf dem sie saßen, und dabei hatten sie sich einander Tausenderlei zu sagen und zu fragen, obgleich sie täglich um ganz dieselbe Zeit ein Stündchen zusammen kamen.
Daß dann die gute, blinde Mutter stets schlafen ging, war natürlich der reine Zufall. Aber eine Mutter kennt das Menschenherz nur allzu gut und gar eine blinde Mutter weiß ganz genau, daß in all das Elend der Arbeit und des Hungers zuweilen ein Sonnenstrahl gehört, und den wärmsten, hellsten Strahl versendet doch eigentlich nicht die Sonne, sondern die Liebe, welche die Sonne aller Sonnen ist. Und kommt nun so ein Sonnenstrahl, so geht die Blinde schlafen, da er ihr ja doch nichts nützen kann.
»Wann wirst Du fertig mit Deiner Stickerei?« fragte Wilhelm.
»Morgen.«
»Gott sei Dank. Dann kannst Du doch einmal ausruhen.«
»Aber ich bekomme auch ein schauderhaft vieles Geld.«
»Wieviel?«
»Das weiß ich selbst noch nicht. Wie geht es mit Deiner Maschine.«
»Immer langsam, aber sicher. Man hat so viel zu berechnen.«
»Das ist sehr wahr,« nickte sie verständnißinnig, obgleich sie von der Sache gar nicht viel verstand. Aber wer einen Mechanikus liebt, muß doch wenigstens wissen, daß er sehr viel zu berechnen hat. »Wann wirst Du fertig?«
»Noch vor Weihnacht.«
»Wie schön! Dann kannst auch Du zu den Feiertagen ruhen.«
»Und dann das viele Geld.«
»Wieviel?«
»Vierhundert Thaler, oder gar noch mehr.«
Sie schlug vor Bewunderung die Hände zusammen und sagte:
»Vierhundert Thaler. Diese Engländer müssen doch schrecklich reiche Leute sein. Oder gar noch mehr. Was thust Du mit dem vielen Gelde?«
»Komm her. Ich will Dir’s sagen.«
Er zog ihr Köpfchen wieder zu sich heran, küßte sie auf die Lippen und flüsterte ihr dann in das Ohr:
»Heirathen.«
»Wen denn?«
»Meinst Du etwa, Dich?«
»Hm. Hübsch wäre es.«
»Na, so müssen wir es einmal für kurze Zeit versuchen.«
»Für kurze Zeit? Geh, Du Böser. Du wirst es bald soweit bringen, daß Dir kein Mensch mehr gut sein kann.«
»Das wird Dir sehr lieb sein.«
»Warum?«
»Nun, hast Du es vielleicht so sehr gern, daß mir alle Menschen, besonders aber alle Mädchen, gut sein sollten?«
»Das wollte ich mir stark verbitten. Aber, laß uns doch einmal ernsthaft sein. Wird Dein Engländer Dich denn auch gewiß und ehrlich bezahlen?«
»Gewiß. Wir haben ja Contract gemacht.«
»Wo wohnt er denn?«
»In Leeds. Aber er kommt ja alle Weihnachten nach hier.«
»Ich wünsche Dir sehr,
Weitere Kostenlose Bücher