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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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ein Bild so großen Trauerns in den gleichen Rahmen zu fassen? Versuchen wir es!«
    Er nahm ein Blatt, tauchte die Feder ein, öffnete seine Gedichte, schlug »Die Nacht des Südens« auf, welche Fanny von Hellenbach so sehr begeistert hatte, und schrieb, als ob es ihm dictirt werde:
    »Wenn um die Berge von Befour
    Des Abends dunkle Schatten wallen,
    Dann tritt die Mutter der Natur
    Hervor aus unterird’schen Hallen,
    Und läßt auf die versengte Flur
    Des Thaues stille Perlen fallen.
    Des Himmels Seraph flieht, verhüllt
    Von Wolken, die sich rastlos jagen;
    Die Erde läßt, von Schmerz erfüllt,
    Den Blumen bittre Thränen tragen,
    Und um verborg’ne Klippen brüllt
    Die Brandung ihre wilden Klagen.
    Da bricht des Morgens glühend Herz:
    Er läßt den jungen Tag erscheinen,
    Der küßt den diamant’nen Schmerz

Von tropfenden Karfunkelsteinen
    Und trägt ihn liebend himmelwärts,
    Im Aether dort sich auszuweinen!« –
     
    Also Marie, seine Pflegeschwester, war eine Treppe abwärts gegangen. Sie hatte von der Mahlzeit, welche Robert mitgebracht hatte, einen Theil zurückgelegt, um Andere, welche auch litten, damit zu beglücken. Sie wußte, wie willkommen diese Gabe war.
    Da unten stand nämlich an einer Thür zu lesen: »Wilhelm Fels, Mechanikus«. Oeffnete man diese Thür, so trat man in ein ärmliches Stübchen, auf dessen Ofenbank eine ewig strickende, leidend aussehende, blinde Frau saß. Sie war des Tages stets allein, denn ihr Sohn arbeitete im Atelier seines Principales. Des Abends aber kam er, und anstatt sich auszuruhen, arbeitete er an der Herstellung eines Mechanismus, welcher ihm von einem reichen Engländer zur Aufgabe gemacht worden war.
    Er war der Lieblingsgehilfe seines Meisters. Er verdiente einen schönen Lohn; aber er war leider ein ehrlicher Junge. Sein Vater hatte Ehrenschulden hinterlassen, die von ihm übernommen worden waren. Er wollte das Andenken des Todten rein erhalten und sah sich gezwungen, diesem Vorhaben über die Hälfte seines wöchentlichen Verdienstes zu opfern.
    Auch heut, als Marie eintrat, saß er am Tische und sann und feilte, feilte und sann, daß ihm trotz der im Stübchen herrschenden Kälte der Schweiß von der Stirn tropfte.
    Marie theilte ihre Gaben aus. Sie sollten nicht angenommen werden, aber sie besiegte jeden Widerstand mit der Versicherung, daß Robert einen Speisenvorrath für mehrere Tage mitgebracht habe. Man sah es dann der Blinden an, daß sie wohl schon seit Tagen sich nicht vollständig satt gegessen habe.
    Sie ging dann schlafen, und nun befanden sich die beiden jungen Leute allein. Er blickte zu ihr herüber und legte die Feile weg. Sie blickte zu ihm hinüber und legte die Seide fort, aus welcher sie sich einen Vorrath von Stickfäden gezogen hatte.
    »Marie?« sagte er halblaut.
    »Wilhelm?« antwortete sie ebenso.
    »Liebe Marie!«
    »Lieber Wilhelm!«
    »Die Mutter ist schlafen!«
    »Ja.«
    »Ob sie wohl schon eingeschlafen ist?«
    »Vielleicht,« antwortete sie erröthend.
    »Oder ob Sie noch einmal zurückkehren wird?«
    »Auch das ist möglich.«
    »Aber, liebe Marie, sie kann doch nicht sehen!«
    »Leider, lieber Wilhelm.«
    »Darf ich also kommen?«
    Sie antwortete nicht mit Worten, aber sie nickte mit dem hübschen Köpfchen. Das war genug. Er stand von seinem Stuhle auf und kam zu ihr. An der Wand stand ein Sopha, ein Kanapee, oder doch Etwas, dem man diesen Namen beilegen konnte, wenn man es nicht gar zu sehr genau nahm. Vier hölzerne Beine, drei Bretter darauf genagelt, hüben und drüben eine hohle Rolle aus starker Pappe und darüber ein Ueberzug von groß geblümtem Zitz, die Elle für fünfzehn Pfennige; das war das Kanapee, oder das Sopha, oder der Divan, welchen Wilhelm vor zwei Jahren seiner Mutter als Christgeschenk gegeben hatte. Er hatte damals das Möbel selbst zusammengenagelt und Marie hatte den Ueberzug besorgt und eingesäumt.
    Darauf saß sie jetzt und er setzte sich zu ihr.
    »Weißt Du, daß Du recht angegriffen aussiehst?« fragte er, indem er ihr kleines, arbeitsames Händchen ergriff.
    »Und weißt Du, daß Du heut wieder blässer bist als gestern?« antwortete sie, indem sie ihr Händchen nicht aus seiner fleißigen Hand zurückzog.
    »Du solltest Dich viel, viel mehr schonen!«
    »Du nicht minder!«
    »Ja, ja,« lächelte er. »Wir geben einander nur immer guten Rath; aber weißt Du, was wir ganz und gar vergessen, uns zu geben, liebe Marie?«
    »Nun, was?« fragte sie sehr neugierig.
    »Einen Kuß.«
    Da schlug

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