Der verlorne Sohn
»Seid still! Hier nebenan sind Lauscher eingestiegen!«
Dann eilte er, ohne sich um den Eindruck seiner Worte zu bekümmern, da er keine Zeit zu verlieren hatte, nach dem Waffenschranke und nahm ein geladenes Doppelgewehr heraus. Auch einen Nickfänger nahm er zu sich und begab sich damit schleunigst zu dem Einsiedler.
»Hier ist das Gewehr, es ist mit Kugeln geladen,« sagte er. »Und hier ist auch ein Messer, wenn die Flinte nicht ausreichen sollte.«
»Gut! Kommen Sie!«
»Die Kerls werden doch noch zu haben sein!«
»Hoffentlich.«
Sie machten trotz ihrer Eile einen kleinen Umweg, um nicht gehört zu werden. Als sie die an die Obstbaumanlage stoßende Waldecke erreichten, traten sie unter die Bäume und schritten leise nach der Giebelseite vor.
»Hier bleiben wir stehen,« sagte der Einsiedler. »Da kann man uns nicht bemerken.«
»Nein, wir müssen näher hinzu!«
»O bewahre. Wenn wir unter den Bäumen vortreten, können sie uns sehen, und das müssen wir vermeiden.«
»Aber Sie haben unsicheres Ziel!«
»Da irren Sie sich. Ich bin ein besserer Schütze, als Sie meinen, und die Mauer ist ja weiß. Wenn die beiden Kerls heraussteigen, werden sich ihre dunklen Gestalten so deutlich gegen dieselbe abzeichnen, daß ich gar nicht fehlen kann. Sie können sich darauf verlassen, daß Jeder die Kugel in den Kopf erhält. Passen wir auf.«
Sie warteten und hielten die Blicke fest auf die Leiter und das betreffende Fenster gerichtet.
»Sehen Sie!« flüsterte der Freiherr.
»Ja,« antwortete leise der Andere.
»Das ist Einer. Aber, zum Sapperment! Er steigt von unten hinauf. Was ist das?«
»Sollte es ein Dritter sein? Ich schieße ihn weg.«
Er erhob das Gewehr und legte an. Aber in dem Augenblicke, als er losdrückte, wurde ihm der Lauf des Gewehres zur Seite geschlagen und eine weibliche Stimme rief: »Halt! Herbei, herbei! Ihr sollt ermordet werden!«
»Verflucht! Wer ist das?« stieß der Einsiedler hervor.
Er wendete sich zur Seite. Er erblickte eine nicht zu hohe Frauengestalt, welche die Flinte und seinen Arm gefaßt hielt. Er entriß ihr das Gewehr und sagte: »Verdammte Kröte! Fahre zum Teufel!«
Er holte aus, um sie mit dem Kolben niederzuschlagen, wurde aber von hinten gepackt, und eine zweite weibliche Stimme rief.
»Zu Hilfe, Herr Lieutenant! Schnell, schnell!«
»Ah, noch eine!« rief er wüthend. »Na, da geht mit einander in die Hölle!«
Er schüttelte auch die Andere von sich ab, welche in demselben Augenblicke von dem Freiherrn gepackt wurde. Da es sich nur um weibliche Personen handelte, so hatte der Letztere den Muth dazu.
Es begann ein kurzes Ringen zwischen den zwei schwachen Wesen und den beiden Männern, wobei diese Letzteren nicht bemerkten, daß Der, welcher an der Leiter emporgestiegen war und, als der Schuß fiel, bereits das Fenster erreicht hatte, schnell herabglitt. Auch aus dem Fenster kamen zwei Gestalten in höchster Eile gestiegen und rutschten an der Leiter herab. Alle Drei eilten herbei.
»Das war Ellen’s Stimme!« sagte dabei Holm. »Und auch diejenige meiner Schwester. Drauf!«
Die drei Männer kamen im Nu herbei. Sie erblickten die miteinander Ringenden. Holm erfaßte sofort den Einen und erkannte ihn.
»Ah, Herr von Tannenstein!« rief er. »Sie sind es gerade, den wir suchen. Wir verhaften Sie im Namen des Gesetzes.«
»Noch nicht!« rief dieser.
Er riß sich los und sprang zwischen den Bäumen davon.
Robert Bertram hatte mit dem Dritten, den zu erkennen noch keine Zeit gewesen war, den Einsiedler gepackt. Dieser ließ das Gewehr, welches ihm nichts nützte, fallen und zog das Messer.
»Da, Hund!« rief er.
Die Klinge fuhr dem Einen in die Schulter. Winter kam frei und eilte dem davonspringenden Freiherrn nach, augenblicklich verfolgt von dem Gestochenen.
»Ellen?« fragte Holm.
»Max!« antwortete sie. »Bist Du getroffen?«
»Nein.«
»O, Gott sei Dank!«
»Wer ist denn die Andere?«
»Hilda.«
»Um Gottes willen! Wie kommt Ihr hierher?«
»Das läßt sich in Kürze nicht so leicht sagen. Du hattest mit Herrn Bertram heute so viel zu flüstern. Ihr spracht von Grünbach, von dem Freiherrn. Ich hörte einige Ausdrücke, welche mich besorgt machten. Dann wart Ihr fort. Es wurde fast Mitternacht und Ihr kamt nicht zurück. Da hatten wir große Angst. Der Herr Lieutenant von Hagenau war zu Deinem Vater gekommen und bis so spät geblieben. Wir beschlossen, hierher zu gehen, und baten ihn um seinen Schutz, um seine Begleitung.«
»Welche
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