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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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that, als ob sie dies gar nicht bemerke. Er war verurtheilt, vor ihr zu stehen und, wie Sysiphus, Schätze zu erblicken, die er niemals zu erreichen hoffen durfte.
    »Es ist eigentlich Gott selbst, der mich zu Ihnen sendet, gnädige Frau,« antwortete er endlich.
    »Gott selbst? Das ist eine unendliche Ehre für Sie. Er pflegt doch gewöhnlich nur Apostel und Propheten zu senden. Also welcher Art ist Ihr Auftrag?«
    »In einem Hause auf der Wasserstraße, welche das Eigenthum des gnädigen Herrn ist, zog heute Morgen der Tod ein. Ein braver, glaubenstreuer Familienvater wurde seinen Kindern entrissen. Die Kleinsten befinden sich jetzt bereits im Waisenhause. Nun ist aber noch die älteste Tochter zu versorgen.«
    Er machte eine Pause. Ella ahnte, um was es sich handelte. Sie hatte gute Laune genug, dem frommen Manne die Sache zu erleichtern.
    »Sie suchen wohl eine Stellung für sie?« fragte sie.
    »Ja, ja; das ist es, was ich bemerken wollte.«
    »Und wenden sich in dieser Beziehung an mich? Schön! Das finde ich sehr lobenswerth von Ihnen!«
    Ganz glücklich über diese Worte verneigte er sich fast bis auf den Teppich herab.
    »Ich kenne das gute, milde, menschenfreundliche Herz der gnädigen Frau Baronin!«
    »So? Wann und wo haben Sie es kennen gelernt?«
    Diese Frage brachte ihn in außerordentliche Verlegenheit. Er hatte noch niemals Veranlassung gefunden, über das gute Herz der Baronin eine Erfahrung zu machen.
    »Ueberall und stets!« antwortete er. »Die Mildthätigkeit Euer Gnaden ist ja in der ganzen Stadt bekannt.!«
    »Das gereicht mir zur besonderen Ehre. Darum sollen Sie sich auch dieses Mal nicht vergeblich an mich wenden.«
    Er verbeugte sich abermals.
    »Ich bin ganz entzückt, Hoheit!«
    »Ich sehe es!« lächelte sie. »Ich werde mich also nächster Tage erkundigen, ob bei einer meiner Freundinnen oder Bekannten für unseren Schützling ein Placement zu finden ist.«
    Sie spielte mit ihm, wie die Katze mit der Maus. Er machte eine abwehrende Handbewegung und stotterte:
    »O nein! Ich wollte – ich ahnte – ich dachte –«
    »Nun, mein Lieber, was dachten Sie?«
    Es war ihr eine Locke ihres Haares aufgegangen. Sie erhob die beiden Arme, um sie wieder zu befestigen. Dabei kam die Form der Arme, des Busens, des ganzen Oberkörpers zu einer Darstellung, welche dem Vorsteher den Kopf verdrehte. Er suchte nach Worten, ohne sie zu finden. Sie merkte das, ja, sie hatte es sogar beabsichtigt. Und als sie nun, wie ganz zufällig, mit der einen Hand an der Büste niederstreifte, wobei der Verschluß des Morgenhemdes seine Festigkeit verlor, da war es um ihn geschehen. Er räusperte sich ängstlich und zog sein Taschentuch hervor, um sich die kahle, vom Haar entblößte Stirn abzutrocknen.
    »Nun?« fragte sie verwundert. »Ein Frommer, der vergeblich nach dem richtigen Worte sucht, seine Gedanken auszudrücken! Ist das möglich?«
    »Verzeihung!« stammelte er. »Hier ist es so warm!«
    »Mir scheint sogar, es wird Ihnen heiß. Aber das geht doch Ihren Schützling nichts an. Reden Sie!«
    Er faßte sich und sagte:
    »Meine Mündel ist, wie ich bereits erwähnte, in einer sehr gottesfürchtigen Familie erzogen worden. Der Same, welchen ich da säete, soll nicht verloren werden. Das Mädchen ist eine reine Seele, welche nach Gott und dem Himmel dürstet, und so ist es meine heilige Pflicht, sie nur in eine Familie zu geben, in welcher der wahre Glaube und die echte Gottesfurcht vorhanden sind.«
    »Das ist sehr löblich von Ihnen!«
    Diese Zustimmung gab ihm die Gabe der Rede vollständig zurück:
    »Da ich nun weiß, daß das Haus der gnädigen Frau Baronin ein Tempel ist, in welchem die wahre Verehrung herrscht, so hätte ich es als eine Schickung des Allerhöchsten angesehen, wenn es möglich gewesen wäre, hier ein Plätzchen für das gute Kind zu finden.«
    »Ah! Sie wünschen eine Stellung für sie bei mir?«
    »Ja, gnädige Frau. Der Himmel wird es Ihnen lohnen, was Sie hier auf Erden an der armen Waise thun!«
    »Als was soll ich sie denn engagiren?«
    »Als was Sie denken!«
    Da schnippste sie fröhlich mit den Fingern, warf ihm einen pfiffig-malitiösen Blick zu und sagte:
    »Ich kann sie leider nicht gebrauchen, aber mein Mann, der Baron hat vielleicht irgend eine Verwendung – nicht?«
    Er trat erschrocken einen Schritt zurück.
    »Gnädige Frau!«
    »Papperlapapp! Wie alt ist sie?«
    »Neunzehn.«
    »Wie heißt sie?«
    »Marie Bertram.«
    »Ist sie hübsch?«
    »Die Vorsehung hat ihr in

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