Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
Vom Netzwerk:
abermals einen forschenden, doch nicht unfreundlichen Blick auf sie und fragte: »Sie heißen?«
    Sie stand zitternd vor ihm und hob die Augen zu ihm auf, wie eine Taube, welche den Habicht vor sich hat. Doch antwortete sie nicht.
    »Wie heißen Sie?« wiederholte er.
    »Marie Bertram,« antwortete sie jetzt so leise, daß er es kaum zu verstehen vermochte.
    »Wie alt?«
    Er sprach die gewöhnlichen Recognitionsfragen aus, mußte aber jede einmal oder auch mehrere Male wiederholen, ohne daß er hätte behaupten können, daß sie böswillig schweige.
    »Haben Sie Vermögen?« fragte er dann.
    »Nein,« antwortete sie stockend, und dabei blickte sie ihn so verwundert an, als ob er die größte Ungereimtheit ausgesprochen habe.
    Er setzte das Verhör fort. Sie beantwortete seine Fragen sehr langsam und zögernd. Das machte ihn doch ungeduldig. Er sagte: »Antworten Sie schneller! Warum überlegen Sie sich denn jedes Wort, bevor Sie es aussprechen, so lange?«
    »Ich muß nachdenken,« entschuldigte sie sich.
    »Warum erst nachdenken? Haben Sie Angst, sich zu verrathen?«
    Wieder blickte sie ihn verwundert an und antwortete dann:
    »Ich habe nichts zu verrathen, aber mein Kopf.«
    »Was ist’s mit Ihrem Kopfe?«
    »Er ist so schwer! Und doch fühle ich keine Gedanken darin.«
    Er kam nach und nach zu der Ueberzeugung, daß er auch mit ihr auf das Vorsichtigste verfahren müsse, da sie geistig höchst angegriffen sei. Er erfuhr alle ihre Verhältnisse und konnte doch keine Schuld auf sie bringen, wenigstens in Beziehung auf ihren Bruder nicht. Vieles hatte sie geradezu vergessen, und zwar nach so kurzer Zeit! Sie wußte, daß ihr Bruder sich das Geld geborgt hatte, aber bei wem? das vermochte sie bereits nicht mehr zu sagen.
    Während des Verhörs wurde auch die Familie Fels erwähnt. Der Assessor hatte die Untersuchung gegen den jungen, unglücklichen Mechanikus nicht zu führen, aber er glaubte irgend einen Fingerzeig für den betreffenden Collegen zu erhalten; darum fragte er: »Haben Sie die Fels, Mutter und Sohn, gekannt?«
    »Ja.«
    »Verkehrten Sie mit Ihnen?«
    »Ja. Ich war täglich bei ihnen.«
    Und bei dem Gedanken an Wilhelm wich die geistige Erstarrung für kurze Zeit von ihr, und darum fügte sie freiwillig hinzu: »Er hat es nicht bös gemeint.«
    »Nicht bös? Wer?«
    »Der Wilhelm.«
    »Und was?«
    »Das mit der Maschiene und dem Arbeitsmaterial.«
    Sie hatte gar keine Ahnung, daß sie im Begriffe stand, sich selbst als Mitwisserin seines Geheimnisses zu denunciren.
    »Ah, Sie haben davon gewußt?« fragte der Assessor.
    »Er hat es mir gesagt?«
    Und entschuldigend fuhr sie fort:
    »Er hätte seinem Prinzipal ganz sicher Alles bezahlt!«
    Es that dem Beamten ganz sicherlich leid, daß sie so unvorsichtig war, sich mit in diese Angelegenheit zu verwickeln, aber er war nun gezwungen, weiter zu forschen. So erfuhr er, daß sie Wilhelms Geliebte sei und seit langer Zeit von der Maschine gewußt habe. Als er zu Ende war, sagte er, nicht ohne einen Blick des Bedauerns und in seinem mildesten Tone: »Ich sehe mich leider gezwungen, Sie hier zu behalten!«
    Sie blickte ihn verständnißlos an.
    »Wissen Sie, was ich meine?« fragte er.
    »Nein.«
    »Ihr Bruder ist bei einem Einbruche ergriffen worden, sogar mit einer lebensgefährlichen Waffe, einem Messer in der Hand. Ist er schuldig, so steht zu erwarten, daß Sie Mitwisserin sind. Ihr Geliebter hat Arbeitsmaterial unterschlagen. Sie haben davon gewußt, Sie sind seine Mitschuldige. Ich kann Sie nicht eher fortlassen, als bis diese beiden Fälle zum Rechtsspruche gekommen sind.«
    »Wo soll ich da bleiben?«
    »Man wird Sie in eine Gefängnißzelle bringen.«
    Jetzt kam ihr eine Ahnung Dessen, was ihr bevorstand. Sie fragte, am ganzen Leibe bebend:
    »Gefangen soll ich sein, gefangen?«
    »Leider!«
    Da schlug sie die Hände vor das Gesicht und schrie laut auf:
    »Gefangen! Herr, da werde ich sterben!«
    Sie schluchzte nicht; sie weinte nicht; sie nahm die Hände nicht vom Gesicht fort. Er wartete eine Weile; dann trat er zu ihr und sagte: »Fassen Sie sich! Es ist nicht so arg, wie Sie es sich vorstellen. Kommen Sie! Ich selbst werde Sie dem Wachtmeister übergeben und ihm befehlen, gegen Sie alle mögliche Rücksicht walten zu lassen!«
    Er zog ihr die Hände weg und erblickte ein Gesicht, so todtesbleich, so starr und ausdruckslos wie dasjenige einer Leiche.
    »Fräulein Bertram!«
    Sie antwortete nicht, und sie bewegte sich nicht.
    »Kommen Sie! Stehen

Weitere Kostenlose Bücher