Der verlorne Sohn
Sie auf!«
Sie war auf einen Stuhl niedergesunken. Er wollte sie aufrichten, aber sie war fast so schwer wie Blei.
»Fassen Sie sich!« bat er weiter. »Es wird Ihnen voraussichtlich nichts geschehen. Nur jetzt müssen Sie sich in das Unvermeidliche fügen. Doch wird man es Ihnen auf alle Weise zu erleichtern suchen.«
Er zog, aber er brachte sie nicht empor. Er klingelte, und der Wachtmeister erschien. Es war der brave Christian Uhlig, der Sohn des einstigen Helfensteiner Todtengräbers.
»Das Mädchen hier bekommt eine gute Zelle,« gebot der Assessor. »Es ist die Schwester des gefangenen Robert Bertram. Schaffen Sie sie fort! Sie scheint sehr erschrocken zu sein.«
Der Wachtmeister versuchte sein Heil.
»Sapperment, das geht nicht,« sagte er dann. »Sie ist ganz steif; sie kann sich nicht bewegen. Da muß ich den Schließer holen!«
Er ging und brachte den Genannten herbei. Beide trugen Marie fort. Sie war nicht ohnmächtig, aber sie war doch ohne Leben. –Seidelmann war nicht nur Vorsteher der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit. Er trachtete auch nach anderen Ämtern, welche geeignet waren, ihn in den Geruch der Frömmigkeit zu bringen. Darum hatte er sich auch um die Almosenpflegerschaft beworben, und darum war er auch in das Chor der Adjuvanten getreten. Nach und nach hatte er es auch zum Vorsteher dieser Corporation gebracht.
Am anderen Tage besuchte er den Pfarrer Matthesius. Dieser saß an seinem Studiertische und memorirte die Leichenpredigt, welche er zu halten hatte. Als es klopfte, war er anfangs ungehalten über die Störung, als er jedoch Seidelmann eintreten sah, glättete sich seine Stirn, die sich bereits in Falten gelegt hatte.
»Ah, Sie!« sagt er. »Ich dachte, daß es Jemand Anderes sei.«
»Ja, ich bin es, Herr Pastor! Darf ich stören?«
»Treten Sie näher! Sie wissen ja, daß Sie mir niemals eine Störung bereiten. Setzen Sie sich! Was bringen Sie mir?«
»Ich komme mit einer hochwichtigen Frage!«
Er machte dabei ein Gesicht, nach welchem man allerdings überzeugt sein mußte, daß die Frage eine hochwichtige sei.
»Sprechen Sie, mein Lieber!«
»Darf ich fragen, welchen Text Sie Ihrer heutigen Leichenrede zu Grunde zu legen beabsichtigen?«
»O, gewiß. Ich habe mir gesagt, daß wir mehrere Seelen zu retten haben –«
»Verlorene Seelen,« nickte Seidelmann verständnißvoll.
»Daß Verbrecher bei der Leiche stehen werden –«
»Um ein Geständniß abzulegen!«
»Und daß ihre Verbündeten herbeiströmen werden –«
»Um Dem, was sie ein Schauspiel nennen werden, beizuwohnen. Da werden kommen die Moabiter und Amalekiter, die Midianiter und Hethiter. Sie werden kommen von Norden und Süden, von Osten und Westen. Es werden kommen die verborgenen Sünder und Verbrecher, die Untergebenen des ›geheimen Hauptmannes‹ und wohl gar er selbst. Da gilt es, ein Wort zu sprechen, welches wie Blitz und Donner unter sie fährt, welches ihre Herzen zermalmt und ihre Seele zerschmettert. Es giebt da nur einen einzigen Text.«
»Jedenfalls ist es derjenige, den ich ausgewählt habe!«
»Ich bin begierig, es zu erfahren!«
»Matthäus 3, Vers 7 bis 12.«
»Ja, ja! Das ist es! Ihr Otterngezüchte, wer hat Euch denn gewiesen, daß ihr dem zukünftigen Zorne entrinnen werdet?«
»Sehet zu! Thut rechtschaffene Früchte der Buße!«
»Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt!«
»Darum, welcher Baum nicht gute Früchte bringt, der wird abgehauen und in das Feuer geworfen!«
»Und er hat seine Wurfschaufel in der Hand, er wird seine Tenne fegen!«
»Er wird den Waizen in seine Scheuern sammeln, die Spreu aber wird er verbrennen mit ewigem Feuer!«
Der Pfarrer war ganz begeistert für sein Thema. Er meinte es jedenfalls ernst, sehr ernst. Er wußte, daß der Sohn an den Sarg des Vaters geführt werden solle, um zum Geständnisse bewegt zu werden. Er wollte das Seinige dazu beitragen, den verstockten Verbrecher, denn dafür hielt er ihn, zu erweichen. Und er war auch wirklich überzeugt, daß die geheimen Untergebenen des »Hauptmanns« sich einfinden würden. Auch an sie sollten seine Worte gerichtet sein. Das war seine ehrliche Absicht.
»Sie werden die Bösen zerknirschen, wie der Sand unter den Füßen zerknirscht!« meinte Seidelmann. »Aber welches Lied haben Sie zu dieser Rede ausgewählt, Herr Pastor?«
»Wie es zu dieser Gelegenheit nur einen einzigen Text giebt, so ist auch nur ein einziges wirklich passendes Lied
Weitere Kostenlose Bücher