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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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sagte dann zu dem Gerichtsarzte: »Diese Worte geben mir zu denken!«
    »Warum?«
    »Weil er bei ihnen abermals in Ohnmacht fällt.«
    »Er hat sie sehr häufig ausgesprochen,« wagte der Schließer zu bemerken, »sehr häufig!«
    »Im drohenden Tone; so wie jetzt?« fragte der Arzt. »Oder hatte sein Ton den Klang eines plötzlichen Schreckes?«
    Er war Psycholog und wußte, daß die jetzt erwartete Antwort von großer Bedeutung sein werde.
    »Drohend,« antwortete der Schließer. »Es klang immer grad so, als ob er sich auf irgend Jemanden stürzen werde.«
    Der Assessor hob die Hand bedeutungsvoll empor und sagte:
    »Es sind ganz dieselben Worte, welche oben im Zimmer von Fräulein von Hellenbach gerufen wurden. Die beiden Polizisten, welche an der hinteren Thür Wache standen, haben sie deutlich gehört. Wollen Sie die Güte haben, zu versuchen, ob ihm noch irgend Etwas zu entlocken ist, Herr Doctor?«
    Der Arzt trat wieder näher zu dem Gefangenen heran und fragte:
    »Wer ist der Bösewicht, den Sie meinen?«
    Aber der Gefragte antwortete nicht. Es war, als ob er gar nicht wisse, daß Menschen in der Nähe seien. Der Doctor wiederholte seine Frage, und als dies abermals keinen Erfolg hatte, legte er ihm die Hand abermals auf dieselbe Stelle des Kopfes. Da fuhr Bertram auf, ballte die Fäuste und brüllte: »Zurück, oder ich ermorde Dich! Du sollst ihr nicht ein einziges Haar ihres Hauptes krümmen!«
    Er blickte wild um sich. Seine Augen leuchteten, wie diejenigen eines Menschen, der sich in der größten Aufregung befindet.
    »Wem soll kein Haar gekrümmt werden?« fragte der Arzt.
    »Ihr, der Nacht, Nacht, Nacht!«
    »Wer ist das?«
    »Wer? Wißt Ihr das nicht?«
    Er machte ein Gesicht, in welchem sich die größte Verwunderung aussprach, und fuhr dann fort:
     
    »In ihren dunklen Locken blühn
    Der Erde düftereiche Lieder;
    Aus ungemess’nen Fernen glühn
    Des Kreuzes Funken auf sie nieder,
    Und traumbewegte Wogen sprühn
    Der Sterne goldne Opfer nieder.«
     
    Er hob das bleiche, aber erregte Gesicht nach oben, als ob er das funkensprühende Firmament des Südens erblickte, und fuhr dann fort:
    »Und bricht der junge Tag heran,
    Die Tausendäugige zu finden,
    Läßt sie das leuchtende Gespann
    Sich durch purpurne Thore winden,
    Sein Angesicht zu schau’n und dann
    Im fernen Westen zu verschwinden.«
     
    Jetzt sank er langsam und mit sich schließenden Augen wieder auf das Stroh zurück. Der Arzt fragte:
    »Kennen Sie diese Verse, Herr Assessor?«
    »Natürlich! Es ist ›Die Nacht des Südens‹ aus der Gedichtssammlung des berühmten Hadschi Omanah.«
    »Er kann sie auswendig. Er verbindet mit dieser Nacht des Südens irgend welche Gedanken und Begriffe; wer aber weiß, welche?«
    »Er ist verrückt!«
    »Ich vermuthe, daß er geistig gestört ist. Vielleicht infolge eines plötzlichen Schreckes, vielleicht auch in Folge – ah, da fällt mir ein: Nicht wahr, sein Vater ist gestorben?«
    »Ja, ganz plötzlich, vor Schreck.«
    »Weiß er es?«
    »Nein.«
    »Man sollte ihn zu der Leiche führen!«
    »Das ist allerdings ein frappanter Gedanke! Selbst wenn seine geistige Verwirrung nur simulirt sein sollte, läßt sich annehmen, daß der plötzliche, unerwartete Anblick der Leiche seines Vaters ihn so packen werde, daß er die Maske nicht fest zu halten vermag.«
    »Das ist wahrscheinlich. Aber ich möchte behaupten, daß er sich nicht verstellt. Sein Zustand ist nicht simulirt. Grad deshalb erwarte ich, daß der Anblick der Leiche ihn zu sich bringen wird.«
    »So wollen wir nicht säumen, Herr Bezirksarzt!«
    »Ich habe sofort Zeit und stehe zur Verfügung. Der Fall ist ein über alle Maßen interessanter. Aber, müssen wir uns nicht vorher die Genehmigung erbitten?«
    »Bei dem Herrn Gerichtsdirector, ja. Ich bin überzeugt, daß er sich sofort selbst anschließen wird. Wir brauchen zwei Droschken: Die eine ist für uns und die andere für den Inculpaten mit seiner Bewachung. Kommen Sie!«
    Die Herren verließen die Zelle, welche der Schließer hinter ihnen wieder verschloß. Als sie die Gefängnißräume verlassen hatten und den Wartesaal des Gefängnißgebäudes betraten, erhob sich dort – Seidelmann von einem Stuhle. Er trat auf den Assessor zu, grüßte sehr höflich und salbungsvoll und sagte: »Ich kam soeben nach Hause und fand einen Bestellzettel vor, welcher Ihre Unterschrift trägt, Herr Assessor.«
    »Ja, ich wollte mit Ihnen sprechen. Sie waren in der Familie des Schneiders Bertram

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