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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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mag!«
     
    Während dieses Gesanges sollte der Sarg geschlossen und in die Grube gesenkt werden. Man ergriff den Deckel. Da aber ertönte ein lauter, schriller Schrei, so laut und schrill, daß er selbst den Gesang durchdrang. Marie hatte ihn ausgestoßen. Sie raffte sich mit aller Gewalt, deren sie noch fähig war, empor.
    »Vater! Mein Vater – Vater – Va –«
    So ertönte es in markerschütterndem Tone. Sie konnte das Wort nicht zum vierten Male aussprechen, sie brach zusammen. Man schaffte sie augenblicklich nach der Droschke.
    Nun rasselte der Sarg zur Tiefe. Kein Mensch warf ihm eine Hand voll Erde nach. Die Feier war beendet, aber die Menge entfernte sich nicht, sie wartete. Man wollte Robert sehen.
    Man hatte ihm vorhin, als man ihn aus der Zelle holte, seine Ketten abgenommen, er war also nicht gefesselt. Er wurde jetzt in die Mitte der Beamten genommen und fortgeschafft.
    Er ließ es ruhig geschehen. Er hielt den Blick starr vor sich hin gerichtet. Jedermann erkannte, daß er vollständig geistesabwesend sei. Unzählige Augen waren auf ihn gerichtet. Er sah sie nicht, er bemerkte sie nicht.
    Wirklich nicht?
    Bereits war er bis nahe an das Thor gekommen, da blieb er plötzlich stehen. Sein starrer Blick hatte zwei schwarze, dunkle Augensterne getroffen. Was war das? Wurde seine Seele lebendig? Sein kaltes Auge erhielt Bewegung und Glanz. Er stutzte noch einen Augenblick, dann aber geschah Etwas, was seine Wächter nicht zu verhindern vermochten, da sie nicht darauf vorbereitet gewesen waren.
    Aber ehe dies erzählt werden kann, ist es nöthig, vorher um einen Tag zurückzugehen.
    Die Kunde von dem Einbruch bei Oberst von Hellenbach hatte die Bevölkerung der Hauptstadt in große Erregung versetzt. Der Schreck hatte sich gesteigert, als man erfuhr, daß der berüchtigte und gefürchtete Bormann die That ausgeführt habe.
    Am anderen Tage hatte folgende Notiz in den Blättern gestanden:
     
    »Es ist nun doch dem Bemühen der Behörde gelungen, die Persönlichkeit des mit dem Riesen Bormann ergriffenen Einbrechers festzustellen. Der noch sehr junge Mensch heißt Robert Bertram, hat sich scheinbar mit Abschreibereien beschäftigt und ist der Sohn eines schwindsüchtigen Schneiders in der Wasserstraße Nr. 11.
    Daß dieser angebliche Schreiber ein äußerst gefährlicher und verwegener Mensch ist, läßt sich nicht nur daraus schließen, daß er der Verbündete des berüchtigsten Einbrechers ist, sondern auch daraus, daß er mit einem lebensgefährlichen Werkzeuge bewaffnet war.
    Gegen solche aus der menschlichen Gesellschaft getretene Subjecte ist natürlich die allerstrengste Schärfe des Gesetzes in Anwendung zu bringen.
    Uebrigens diene zur Berichtigung, daß der Einbruch nicht, wie erst verlautete, in der zweiten Stunde, sondern ganz kurz nach Mitternacht stattfand. Richtig aber ist es, daß man die Entdeckung des Verbrechens und die Ergreifung der Uebelthäter der Intervention des ›Fürsten des Elendes‹ verdankt.«
     
    Also war festgestellt worden, wer der zweite Spitzbube war. Man las diese Notiz und ging dann zur gewöhnlichen Tagesordnung über. Tiefer berührte sie nur die Bewohner der Wasserstraße und besonders die des Hauses Nummer Elf.
    Zwei Orte aber waren es, an denen diese Veröffentlichung einen außergewöhnlichen Eindruck hervorbrachte. Der erste dieser Orte war das Haus des Trödlers Salomon Levi.
    Seine Tochter Judith saß oben in ihrem Zimmer und las gerade das Gedicht, welches Robert so absprechend beurtheilt hatte; da kam es eilig die Treppe heraufgepoltert, die Thür wurde mit Vehemenz aufgerissen, und ihr Vater trat ein, ein Zeitungsblatt in der Hand. Hinter ihm stand die Mutter, die Hände ringend.
    »Was ist’s?« fragte Judith erschrocken. »Was ist geschehen?«
    »Was geschehen ist?« fragte Salomon Levi. »Was soll sein geschehen! Ein großmächtiges Unglück ist geschehen, ein Mallör, wie es sein kann gar nicht größer und schlimmer auf der Welt!«
    »So sage es doch!«
    »Ein Mallör, ein großes, gewaltiges Mallör, meine Tochter Judithleben!« jammerte Rebecca.
    »Schweig, Weib!« wurde sie von ihrem Manne angeherrscht. »Wenn Israel sich befindet in Traurigkeit, so haben erst zu klagen die Männer! Dann, wenn diese sind fertig geworden, können auch beginnen zu jammern die Weiber!«
    »Aber so redet doch!« bat Judith, der es ganz angst wurde.
    »Ja, reden werde ich, reden von dem großen Verluste, der da hat betroffen meine Familie und meine Tochter, mein Kind,

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