Der verlorne Sohn
anwesend, als dieser starb?«
»Ja, ich war Zeuge seines plötzlichen Todes. Der Herr ist ein gerechter Richter aller Lebendigen und Todten.«
»Sie kennen die Familie näher?«
»Gewiß, denn ich bin Armenpfleger dieses Districtes und zugleich Privatbeistand in geistlichen Angelegenheiten.«
»Ich höre, daß Sie Vormund der Waisen sind?«
»Der Herr hat mich würdig befunden für dieses höchst verantwortungsvolle Amt.«
»Die kleineren Kinder befinden sich jetzt, wie man mir sagt, im Waisenhause. Nun giebt es aber eine größere Tochter. Wo ist diese?«
»Herr Assessor, an diesem Mädchen habe ich bereits erfahren, welche Last ich auf mich genommen habe. Ich erbat mir für sie eine Stellung bei der Frau Baronin von Helfenstein –«
»Ah, bei dieser Dame! Dort ist sie also?«
»Nein. Sie hat nicht gut gethan. Man hat sie in Folge dessen kaum einen Tag behalten können, dann wurde sie fortgejagt.«
»Wohin?«
»Ich brachte sie zu einer Verwandten von mir, einer frommen, Gott wohlgefälligen Seele. Sie hat ein Herz wie der Apostel Nathanael und wird das Mädchen zu retten suchen.«
»Davon spreche ich jetzt nicht. Aber ich muß die Marie Bertram sprechen. Ihr Bruder ist als Dieb und Einbrecher bei uns inhaf–«
»Das ist er auch! Ein Dieb und Einbrecher!« fiel der fromme Vorsteher der Gesellschaft der Seligkeit eifrig ein.
»Wirklich? Meinen Sie?«
»Ja, gewiß!«
»Wieso? Haben Sie Beweise?«
Seidelmann wurde ein wenig verlegen und antwortete:
»Beweise? Nein, Herr Assessor! Das heißt – hm!«
»Nun? Sprechen Sie!«
»Erstens ist der von Gott abgefallene Mensch zu Allem fähig. Und die Familie Bertram war abgefallen!«
»Und zweitens?«
»Zweitens? Hm! Oh!«
Er blickte auf den Boden nieder, wiegte die Achseln leise hin und her und sagte dann, auf Matthesius deutend:
»Herr Assessor, der Herr Pastor hier ist ein ausgezeichneter und pflichteifriger Hirte seiner Heerde. Er wird Ihnen sagen, daß es einem wahren Christen schwer fallen muß, der Ankläger einer Seele zu sein, nach welcher der Teufel die Hand ausstreckt.«
Der Untersuchungsrichter machte eine Bewegung der Ungeduld.
»Lassen wir jetzt diese theologischen Erörterungen!« sagte er. »Haben Sie vielmehr die Güte, mir zu sagen, was Sie mit Ihrem ›Zweitens‹ meinten!«
Der Fromme machte das unschuldigste Gesicht von der Welt und antwortete:
»Die Familie arbeitete nicht.«
»Ah! Ich dachte, der Sohn habe geschrieben?«
»Ja, aber nichts verdient. Daß er Copist sei, war nur der Deckmantel seines sonstigen Treibens!«
»Welchen Treibens?«
»Das ist Sache des Untersuchungsrichters. Ich aber weiß, daß Robert Bertram zuweilen ganz plötzlich über bedeutende Summen verfügte, nachdem er vorher nicht einen Pfennig gehabt hatte.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich bin Administrator der Wohnung, welche die Familie inne hatte. Das Haus gehört dem Herrn Baron von Helfenstein.«
»Sagen Sie mir einen concreten Fall!«
»Nun, beim letzten Zins bat mich die Familie himmelhoch um Nachsicht, und doch zahlte der Sohn, als ich darauf drang. Ich bemerkte, daß er eine ganze Tasche voll Geld hatte.«
»Hm! Das ist sehr wichtig. Sie werden mir erlauben, Ihre Aussagen zu Protocoll zu nehmen. Aber jetzt nicht. Ich bin beschäftigt. Ich werde Sie bestellen. Wie ist die Adresse dieser Marie Bertram? Ich muß sie in einigen Stunden bei mir sehen.«
»Sie wohnt, wie ich bereits sagte, bei einer Verwandten von mir. Am Einfachsten ist es, ich bringe sie Ihnen her, Herr Assessor.«
»Gut! Ich werde jetzt vielleicht zwei Stunden beschäftigt sein. Dann abererwarte ich sie. Adieu!«
Der Fromme wurde entlassen. Er war sehr froh die Adresse seiner ›gottesfürchtigen Freundin‹ verheimlicht zu haben. Der Pastor Matthesius, welcher ja nicht bei der Leiche zugegen zu sein brauchte, entfernte sich ebenfalls mit ihm.
Der Assessor begab sich zum Gerichtsdirector und kehrte bald zum Arzte mit der Nachricht zurück, daß das Gesuch bestätigt worden und der Director selbst bereit sei, sich anzuschließen.
Nach der Zeit von einer halben Stunde fuhren zwei Droschkenschlitten nach dem Friedhofe. Dort stiegen der Director, der Assessor, der Gerichtsarzt und zwei Sicherheitsbeamte mit dem Gefangenen aus. Dieser Letztere wurde nach der Halle geführt, in welcher die Leiche seines Vaters lag, nur mit einem Tuche zu gedeckt.
Er hatte ohne Sträuben seine Zelle verlassen. Er hatte im Schlitten gesessen wie Einer, der abwesend ist, und starrte auch
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