Der verlorne Sohn
so ist er auch bereits da. Er hat mich von seinem Webstuhl aus gesehen.«
Er hatte sie ›Engelchen‹ genannt. Das ist ein Diminutiv von Angelica, welcher Name zu Deutsch nämlich Engel bedeutet. Das Mädchen war vielleicht achtzehn Jahre alt. Ihre Kleidung war einfach und außerordentlich sauber. Der rothe Flanellrock reichte ihr kaum weiter als bis zur Hälfte der Waden, so daß man das kleine, aber doch kräftig gebaute Füßchen ganz erblicken konnte. Die Winterjacke, welche sie angelegt hatte, war vorn um ein Kleines geöffnet und ließ eine schlanke Taille vermuthen, welche eine schöne, volle Büste zu tragen hatte. Das Gesichtchen war frisch und rosig. Angelica war schön, schöner als manche Dame, welcher es gegraut hätte, den Fuß in eine solche Gebirgshütte zu setzen.
Da kam der Bursche mit den gefüllten Kannen zurück. Sie schob die Thür weit auf und sagte:
»Komm herein, Eduard! Da draußen kannst Du heute die Kannen nicht absetzen.«
Er gehorchte und rieb sich dann pustend die Hände.
»Das ist ein schlimmes Wetter,« meinte er. »Wenn es so fortmacht, werden wir fast nicht mehr auf die Straße gehen können.«
»Und doch kommst Du herüber, um mir Wasser zu holen! Ich danke Dir, Du Guter!«
Sie reichte ihm die Rechte, welche er nahm, um sie herzhaft zu drücken. Dabei antwortete er:
»Oh, Nachbarsleute müssen einander aushelfen. Da ist gar nichts dabei zu sagen.«
»Aber Du bist aus der Arbeit gegangen!«
»Nur diese Minute. Das hole ich schnell ein.«
»Und hast doch so nothwendig!« fügte sie hinzu.
»Woher weißt Du das, Engelchen?«
»Ah, denkst Du etwa, ich habe nicht gehört, daß Du die ganze Nacht hindurch gearbeitet hast?«
Er nickte leise, und dabei nahm sein hübsches, offenes Gesicht einen trüben Ausdruck an.
»Es mußte sein, Engelchen; ich muß ja heute in der Dämmerung fertig werden. Du weißt, daß der Vater jetzt in vierzehn Tagen nur ein Stück fertigbringt, und darum hatte ich drei zu machen.«
»Drei?« fragte sie erstaunt. »Das bringt kein Mensch!«
»Ja, es ist fast zu viel, drei Stück, ein jedes zu zweiundsiebzig Ellen; aber ich habe es doch gebracht!«
»Du wirst Dich krank arbeiten! Warum mußt Du denn eigentlich so viel bringen, Eduard?«
»Weil wir viel Geld brauchen. Der Seidelmann hat dem Vater das Geld gekündigt.«
»Herrgott, ist’s möglich!« rief sie aus. »Der reiche Krösus braucht es doch gar nicht!«
»Das wissen wir wohl; aber wir können es doch nicht ändern. Er sagte, daß er jetzt im Geschäft sehr viel verloren habe, so daß er alle außenstehenden Gelder einziehen müsse.«
»Das glaube ich nicht. Vielleicht hat er einen anderen Grund!«
Eduards Gesicht nahm für einen Augenblick eine dunklere Farbe an. Er antwortete, sichtlich zurückhaltend:
»Das ist freilich möglich!«
»Kannst Du es Dir denken?«
»Vielleicht kann ich es errathen.«
»Was ist’s? Sage es mir!«
»Jetzt nicht; vielleicht ein anderes Mal. Du wirst mit dem Essen zu thun haben.«
»O nein, wir sind bereits weg vom Tische. Ich hatte des Vaters Leibgericht, grüne Klöße und Rauchfleisch. Was aßt ihr?«
Jetzt erröthete er noch mehr als vorhin. Um dies nicht bemerken zu lassen, drehte er sich zur Seite und antwortete: »Ich weiß es wirklich nicht, Engelchen. Wenn ich so nothwendig zu arbeiten habe, nehme ich mir nicht Zeit, darauf zu merken, was die Mutter zurichtet. Ich werde es aber wohl gleich erfahren. Lebe wohl, Engelchen!«
»Lebe wohl! Kommst Du auf den Abend zu uns?«
»Ja, ich komme.«
Nach diesen Worten sprang er von dannen.
Das Häuschen, in welches er schlüpfte, war noch kleiner, als dasjenige, welches Engels Eltern bewohnten. Der Flur bestand aus fest geschlagenem Lehm. Rechts war ein Gewölbe und ein Ziegenstall, und links befand sich die Wohnstube. Diese hatte nur zwei Fenster. Vor jedem derselben stand ein Webstuhl. Gerade als Eduard in die Stube trat, hörte er die Mutter sagen: »Komm, Vater, steige aus dem Stuhle. Wir wollen essen.«
Der Weber folgte der Aufforderung. Seine Gestalt war gebeugt und sein Haar vor der Zeit ergraut. Dieselbe Erscheinung zeigte auch seine Frau. Die Armuth ist eine geizige Freundin.
Auf den Ruf der Mutter hatte es sich in den Ecken und Winkeln der Stube bewegt. Fünf Kinder, außer Eduard, eilten dem blank gescheuerten Tische zu. Die Webersfrau stellte eine Schüssel Kartoffeln auf den Letzteren. Dann faltete der Vater die Hände und sagte:»Wir wollen beten!«
Die Glieder seiner Familie
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