Der verlorne Sohn
schieben und dann durch einen kurzen, barschen Wink das Zeichen der Entfernung zu geben. Darum war es befremdend, daß er heute die Arbeiter, bevor sie ihn der Reihe nach verließen, aufforderte, draußen vor dem Hause zu warten, da er ihnen eine Eröffnung zu machen habe.
Draußen war es bitter kalt. Der Schnee lag über eine Elle hoch und fiel noch immer in dichten, scharf schneidenden Flocken nieder. Die Leute zitterten vor Frost. Ihre armselige Kleidung war nicht geeignet, ihnen Schutz zu gewähren. Hätte nicht der häßliche Kohlenstaub ihre Gesichter bedeckt, so wäre es ihnen leicht anzusehen gewesen, daß auch ihre Ernährung nicht geeignet sei, sie gegen die Unbilden des Winters widerstandsfähiger zu machen.
Endlich trat er heraus zu ihnen. Er sagte:
»Ich habe Euch im Auftrage des Herrn Barons von Helfenstein zu eröffnen, daß er von jetzt ab pro Schicht und Mann zehn Kreuzer weniger zahlt. Es ist Winter; die Concurrenz erschwert den Absatz, und die Betriebskosten werden immer bedeutender. Das ist’s, was ich Euch bekanntgeben soll.«
Die Leute blickten sich unter einander bestürzt an. Ein leises Flüstern ging durch ihre Reihe, und dann meinte Einer von ihnen, der vielleicht der Älteste sein mochte: »Herr Zahlmeister, Sie haben uns da sehr erschreckt. Wissen Sie noch, wieviel ich heute erhalten habe?«
»Ja; drei Gulden,« antwortete der Beamte.
»Drei Gulden für eine Woche! Drei Gulden für eine vierundachtzigstündige Arbeitszeit unter der Erde! Drei Gulden für sieben zwölfstündige Schichten, während denen ich, wie wir ja Alle, in steter Todesgefahr geschwebt habe!«
»Ist Dir’s nicht genug, so suche anderweit Arbeit!«
»Das kann ich nicht! Sie wissen das nur zu gut, Herr Zahlmeister. Es giebt hier nur Weber und Kohlenbergleute. Zum Weben sind meine Augen zu schwach, und dieses Bergwerk ist das einzige in der weiten Umgegend. Ich muß bleiben!«
»So raisonnire also auch nicht!«
»Ich raisonnire nicht: aber ich denke an die acht Personen, welche ich mit drei Gulden zu erhalten habe. Nun sollen für die Woche gar siebzig Kreuzer weniger gezahlt werden. Herr, wir hungern bereits, wir hungern und frieren! Was soll nun weiter mit uns werden?«
»Das ist mir gleichgiltig. Ich habe meine Pflicht zu thun. Ich soll Euch den Befehl des Herrn Barons mittheilen, und ich habe es gethan. Wer nicht einverstanden ist, der braucht nicht wieder zu kommen. Ich finde Arbeiter genug!«
Bei diesen Worten drehte er sich um und trat in das Haus zurück, die Thür hinter sich zuziehend.
Die Leute aber besprachen leise und grollend die Neuigkeit und wadeten dann in einzelnen Gruppen durch den tiefen, knirschenden Schnee dem Städtchen zu.
Dieses Letztere bestand aus niedrigen, ärmlich dreinschauenden Häusern. Es gab nur zwei Gebäude, welche ein besseres Aussehen hatten, nämlich das Pfarrhaus und dann ein anderes, welches auch nicht weit von der Kirche stand und über dessen Thür an einer Marmortafel in goldenen Buchstaben zu lesen war: ›Der Herr behüte dieses Haus und Alle, die da gehen ein und aus!‹ Und an der Thür stand auf einem Porzellanschilde geschrieben: ›Seidelmann und Sohn.‹
Als draußen auf dem Schachte das Schichtzeichen erklungen war, hatte auch hier im Städtchen der Küster die Glocke in Bewegung gesetzt, damit die Einwohner wissen sollten, daß es Mittag sei. Das war so alter Brauch: Mittags zwölf Uhr wurde mit der kleinen Glocke geläutet.
Dieses Geläute unterbrach das scharfe, taktmäßige Geräusch der Webstühle, welches vom frühesten Morgen an aus den Wohnungen der armen Weber heraus in das Schneegestöber erklungen war.
Die Thür eines Häuschens öffnete sich. Ein Mädchen, welches in jeder Hand eine Wasserkanne hielt, wollte heraustreten, fuhr aber erschrocken zurück, als ein scharfer Windstoß ihr eine ganze Wolke von Schnee entgegentrieb.
In demselben Augenblicke wurde die Thür des Nachbarhäuschens aufgestoßen, und ein junger Bursche sprang herbei.
»Grüß Gott, Engelchen!« sagte er. »Du willst an den Brunnen?«
»Ja, Eduard,« antwortete sie.
»Das ist Nichts für Dich! Gieb mir die Kannen!«
Er nahm ihr die beiden Gefäße aus den Händen und eilte fort, um an ihrer Stelle das Wasser zu holen. Sie zog sich zum Schutze hinter die Thür zurück, hielt dieselbe aber ein Wenig geöffnet, um dem gefälligen Nachbarssohne nachblicken zu können.
»Eine gute, liebe Seele, der Eduard!« sagte sie zu sich selbst. »Kaum stehe ich unter der Thür,
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