Der verlorne Sohn
ihn, schluckte und antwortete dann: »Hm! Ich bin nun eine ziemliche Zeit im Amte und habe nur wenige Gräber zu öffnen brauchen. Im letzten, welches ich aufmachte, lag eine Frau, die wohl vor vierzig Jahren gestorben war.«
»Ist dies bei Kindern auch der Fall?«
»Ja, die Kinder haben ihre besondere Abtheilung, die ich noch gar nicht angerührt habe. Das Dorf ist klein und der Friedhof im Verhältnisse so groß, daß wir unsere Todten lange in Ruhe lassen können.«
»So ist also wohl auch das Kind, nach welchem ich fragte, noch nicht wieder ausgegraben worden?«
»Nein. Ich habe es nicht nöthig gehabt. Aber, warum fragen Sie so? Ist etwas mit diesem Kinde?«
»Ja. Es steht nämlich zu vermuthen, daß dieses Kind gar nicht begraben worden ist.«
Der Todtengräber stand im Begriffe, wieder einen Bissen in den Mund zu schieben, blieb aber vor Erstaunen mit demselben vor den weit geöffneten Lippen halten.
»Wie?« fragte er. »Was? Gar nicht begraben?«
»Ja.«
»Das ist doch unmöglich!«
»Warum?«
»Es muß doch eine jede Leiche begraben werden?«
»In der Regel, ja. Bei der Beerdigung des betreffenden Kindes scheint aber Etwas vorgekommen zu sein, in Folge dessen man das Grab ohne die Leiche zugeschüttet hat.«
»O, das kann ja gar nicht passiren?«
»Doch, mein Lieber!«
»Nein. Ich muß das kennen, denn ich bin Todtengräber. Die Leiche wird gebracht; man legt den Sarg in das Grab, und dann, wenn die Leidtragenden sich entfernt haben, wird fast immer sofort mit dem Zuschütten begonnen. Ein Todter kann doch nicht gut ausreißen.«
»Aber er kann ausgerissen werden.«
»Sapperlot! Das wäre ja Leichenraub!«
»Allerdings!«
»Der mit Zuchthaus bestraft wird.«
»Sogar mit einer sehr hohen Zuchthausstrafe. Kurz und gut, ich will Ihnen sagen, daß man den Verdacht hat, die Leiche dieses Kindes sei geraubt oder unterschlagen worden.«
»Donnerwetter! Doch nicht etwa von dem Todtengräber, meinem Vorgänger?«
»Nein. Ich bin gekommen, um mich zu überzeugen, ob das Grab leer ist.«
»Was? Es soll also geöffnet werden?«
»Ja.«
»O, lieber Herr, das geht nicht so schnell! Dazu ist die Anwesenheit der Obrigkeit nöthig.«
»Das wird auch der Fall sein. In spätestens einer halben Stunde wird der Amtmann mit noch einigen Herren kommen, um die Ausgrabung vornehmen zu lassen.«
»Herrgott! Eine Leiche ausgraben! Hier, in Helfenstein, in unserem kleinen Orte! Was werden die Leute dazu sagen! Was für ein Aufsehen wird das machen!«
»Gar keines!«
»Denken sie? O doch! So Etwas ist doch hier noch gar nicht vorgekommen! Und die Botenfrau! Oh!«
»Lebt diese noch?«
»Ja. Sie ist jetzt ein steinaltes Mütterchen und kann kaum noch laufen. Hier bei uns werden nämlich die Leute vor der Zeit alt. Die Armuth zehrt am Leben.«
»Nun, sie soll zunächst nichts erfahren, und auch den Anderen darf nichts gesagt werden. Die Exhumirung soll nämlich in aller Verschwiegenheit vorgenommen werden. Verstanden?«
»Ja. Also auch noch verschwiegen? Also wirklich ein Verbrechen! Ich bin ganz starr vor Erstaunen!«
»Das sehe ich. Sie haben Ihren Bissen noch immer nicht in den Mund gesteckt. Essen Sie zunächst. Ich werde unterdessen hinausgehen und mir das Grab suchen. Es ist Nummer Einundfünfzig.«
»Fangen Sie gleich hinter meinem Häuschen an zu zählen, da ist die Nummer Eins.«
Arndt ging hinaus. Zwar war der Kirchhof beschneit, aber er lag hoch und den Lüften so ausgesetzt, daß der Wind die Erhöhungen kahl gefegt hatte. Man konnte die Gräber deutlich erkennen.
Nummer Einundfünfzig lag in der zweiten Reihe. Arndt bemerkte auf den ersten Blick, daß dieses Grab noch tiefer eingesunken war, als alle anderen. Das war ein Umstand, der ihm zu denken gab. Er kehrte nach kurzer Zeit wieder zum Todtengräber zurück.
Gerade als er durch die hintere Thüre in das kleine Häuschen trat, kam Förster Wunderlich zu der vorderen herein.
»Pünktlich gewesen?« fragte der Alte. »Sie haben bereits da draußen recognoscirt?«
»Ja. Aber Sie hätte ich jetzt noch nicht erwartet.«
»Warum?«
»Ich habe geglaubt, der Richter werde eher kommen. Er sollte doch aussteigen, und dann hatten Sie das Geschirr nach der Schänke zu bringen.«
»Er hatte keine Lust dazu.«
»Keine Lust? Ah! Bei solchen Angelegenheiten ist doch nicht etwa die augenblickliche Stimmung eines Beamten maßgebend. Wo befindet er sich denn jetzt?«
»Er ist mit nach der Schänke gefahren, um ein Glas Grog zu trinken, ehe er
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