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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Ameublement des sonst ziemlich großen Zimmers.
    Im Ofen brannte kein Feuer; die Fenster waren fingerdick mit Eis belegt, und die Kälte dieser Wohnung erreichte fast diejenige, welche auf der Straße herrschte.
    Und doch war alles blank und sauber. Dieses Elend wurde verklärt durch jene Reinlichkeit, welche selbst den ärmlichsten Gegenstand noch besitzenswerth erscheinen läßt.
    Das Mädchen, welches geöffnet hatte, war, sobald es den Herrn Seidelmann erblickte, in eine Ecke geflohen, in welcher die anderen Kinder auf dem Strohsacke saßen, eng aneinander gedrückt, wie Sperlinge des Winters in einer Dachrinne, um sich wenigstens einigermaßen anzuwärmen.
    An dem Tische, auf welchem ein kleines Rüböllämpchen qualmte, saß auf einem der beiden Stühle ein Mann, ein wahres jammervolles Bild des Todes. Er schien außer einer alten Hose gar kein Kleidungsstück zu tragen und war in ein Laken gehüllt, welches einst vielleicht ein Tafeltuch gewesen war. Man sah seine Vorderarme; es waren diejenigen eines Skelettes. Wangen schien er gar nicht zu haben, und die Augen lagen so tief in ihren Höhlen, daß sie kaum noch zu sehen waren.
    Als dieser Mann den Herrn erblickte, stieß er einen Ruf aus, welcher fast ein Schreckensschrei genannt werden konnte. Er wollte sich von seinem Platze erheben, fiel aber wieder auf denselben zurück. War das vor Schwäche oder vor Angst? Das ließ sich nicht unterscheiden.
    »Guten Abend, lieber Bertram! Guten Abend, ihr lieben Kinderchen!« grüßte der Eingetretene in salbungsvollem Tone. »Erschreckt nicht! Der Vorsteher der Schwestern-und Brüdergemeinde ›die Seligkeit‹ ist bei seinem Kommen die aufflammende Leuchte an einem dunklen Orte.«
    Ein lang andauerndes Husten des Kranken verhinderte den Sprecher, seiner Rede eine größere Länge zu geben. Dann fragte er: »Darf ich erfahren wie es Ihnen geht, lieber Bertram?«
    »Schlecht, wie immer, Herr Seidelmann!« hustete der Mann.
    »Das dürfen Sie nicht sagen! Wen Gott lieb hat, den züchtigt er; er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er aufnimmt. Wenn Sie wirklich Noth leiden, so ist diese Ermahnung zur Buße ein Zeichen, daß der Allbarmherzige Euch vergeben will.«
    »Vergeben?« stieß der Kranke hervor. »Was habe ich gesündigt?«
    »Wir sind allzumal Sünder und ermangeln des Ruhmes, den wir haben sollen. Wer seine Sünden nicht erkennt, der ist noch in des Teufels Krallen!«
    »Ja, darin stecken wir!« hustete Bertram. »Herr Seidelmann, diese armen Würmer haben seit gestern früh keinen Bissen in den Mund gebracht; wir Anderen aber seit noch längerer Zeit. Geben Sie uns ein Brod, ein einziges trockenes Brod und dann predigen Sie, so lang Sie wollen!«
    Da streckte der Herr Seidelmann beide Hände abwehrend aus und sagte:
    »Das hieße, Gott vorgreifen! Gott thut noch Zeichen und Wunder. Er wird Ihnen helfen, sobald die Zeit gekommen ist. Wollte aber ich Euch helfen, so würde ich mich gegen den Rathschluß des Allbarmherzigen versündigen! wissen Sie, was für einen Tag wir heute haben?«
    »Freitag.«
    »Ich meine Datum!«
    »Wenn ich mich nicht irre, so ist es der letzte November.«
    »Sie haben recht, lieber Bertram. Morgen ist also der erste December, an welchem die Miethe zu bezahlen ist. Haben Sie das Geld beisammen?«
    »Herr Seidelmann, wenn ich nur einen Pfennig hätte, so würde ich eine Semmel kaufen und sie unter diese Kinder vertheilen!«
    »Semmel? Sehen Sie, wie hochmüthig und genußsüchtig Sie sind! Fleischeslust! Ich an Ihrer Stelle würde froh sein, wenn ich Brod hätte!«
    Da raffte sich der Schwindsüchtige empor, wankte einen Schritt näher und antwortete:
    »Fleischeslust? Herr Seidelmann, kann ich für einen einzigen Pfennig ein Brod bekommen? Mit einer Semmel würden diese Kleinen wenigstens ihren Magen täuschen können. Sie könnten sie in Wasser erweichen und dann dieses Wasser trinken. Sie sprechen von Gott und Gottes Wort. Hören Sie aber das Wort eines Vaters, der seine Kinder hungern sieht! Sehen Sie hier meine Arme! Befände sich nur noch eine Spur von Fleisch daran, so würde ich es mir abschneiden, um den Hunger der Meinigen damit zu stillen! Geben Sie Brod, ein Brod, und ich will Sie verehren, als ob Sie der Heiland selber wären!«
    Diese Anstrengung war zu groß für ihn. Er sank unter einem lang andauernden Hustenanfall auf den Stuhl zurück. Herr Seidelmann wartete, bis dieser vorüber war, und rief dann im Tone des allerhöchsten Schreckens:
    »Herrgott, vergieb dem

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