Der verlorne Sohn
Manne diese Todsünde! Er will seine Familie mit Menschenfleisch füttern und mich als den Heiland Jesus Christus anbeten! Diese Gottlosigkeit –«
»Schweigen Sie!«
Diese zwei Worte ertönten von der Seitenthüre her, welche sich geöffnet hatte. Unter derselben erschien ein junger Mann, welcher vielleicht einundzwanzig Jahre zählen mochte, aber seine blassen, ausgehöhlten Wangen, seine fast fieberhaft glänzenden Augen, sein wirres Haar ließen ihn älter erscheinen.
Seine Züge waren edel; sie erinnerten an die Porträts, welche uns aus dem alten Griechenland überliefert worden sind. Er stand da in der Haltung eines Menschen, welcher bereit ist, einem Anderen den Degen durch den Leib zu rennen.
»Ah, der Herr Privatsecretär!« meinte Herr Seidelmann. »Sie haben gehört, was wir gesprochen haben?«
»Leider! Sie wollen Geld?«
»Leider!« antwortete der Vorsteher, den Frager nachahmend.
»Bitte, treten Sie mit hier herein!«
Er kehrte in die Nebenstube zurück, und Herr Seidelmann folgte ihm, während der Kranke an einem Hustenanfalle bald erstickte.
Hier stand ein Tisch nebst zwei Stühlen und ein alter Koffer, auf dem Tische eine kleine Petroleumlampe. Einiges Stroh lag in der Ecke. Das war Alles, was man erblickte. Aber inmitten dieser Armseligkeit gab es einen Edelstein, wie er werthvoller gar nicht hätte sein können.
Auf einem der Stühle saß nämlich ein junges Mädchen. Sie mochte achtzehn Jahre zählen. Ihre Wangen waren bleich und hohl, der Blick ihrer Augen matt, todtesmüde und ihre Kleidung kaum hinreichend, ihre Blöße zu decken. Aber das war die Folge der bittersten Armuth und des Hungers. Ein einziger Lichtblick des Glückes hätte diese Wangen erglühen und diese Augen wonnig aufleuchten lassen. Und dann hätte dieses Kind des Elendes der größten Schönheit des königlichen Hofes an die Seite gestellt werden können.
Sie saß bei einer feinen Stickerei. Der Stoff, welchen sie bearbeitete, war reich, sehr reich; das Material bestand aus Perlen, Gold-und Silberfäden. Wie lange mochte sie über dieser Arbeit gesessen haben, vielleicht viele Monate lang! Jetzt schien sie beinahe fertig zu sein. Sie erhob sich, und ein leises, aber ganz leises Roth trat in ihr Gesicht. Nur die Scham konnte die Kraft haben, das dünne Blut in die hohlen Wangen zu treiben.
»Ah, da ist auch Jungfer Mariechen!« sagte Seidelmann. »So traulich beisammen!«
»Bei der Arbeit,« antwortete Robert, indem er auf einen Stoß Notenblätter zeigte, welche auf dem Tische lagen. »Ich schreibe Noten, Herr Vorsteher.«
»Das ist ein einträgliches Geschäft. Wie kann man dabei hungern und die Miethe schuldig bleiben!«
»Das ist leicht erklärlich. Ich habe zweihundertvierzig Bogen zu schreiben, ehe die Sammlung beendet ist; dann erst erhalte ich Bezahlung. Morgen Nachmittag werde ich fertig. Marie wird um dieselbe Zeit fertig. Sie hat an dieser Stickerei gegen zehn Monate gearbeitet, Tag und Nacht, möchte ich sagen. Morgen Abend erhalten wir Beide Geld.«
»Warum nicht eher, da Sie doch bereits am Nachmittage fertig werden?«
»Sehen Sie sich unsere Kleidung an. Können wir am Tage so ausgehen?«
»Wo haben Sie die besseren Sachen?«
»Beim Trödler und Pfandleiher. Wir mußten leben. Seit einer Woche haben wir nichts zu verkaufen. So lange Zeit haben wir gehungert.«
»Aber über Ihren Noten haben Sie doch nicht Monate lang zugebracht!«
»Nein. Als ich den vorigen Auftrag beendet hatte, war der Herr, welcher ihn mir ertheilte, verreist. Er ist noch nicht zurückgekehrt, daher erhielt ich keine Bezahlung. Zuweilen hatte ich einen Brief zu schreiben oder eine kleine Abschrift zu machen. Das bringt nur Groschens ein und reicht für so viele Personen und einen Todtkranken nur auf Stunden.«
»Sie müssen mehr arbeiten!«
Da färbten sich auch die Wangen des jungen Mannes, aber nicht vor Scham, sondern vor Zorn. Doch Marie kam ihm mit der Antwort zuvor.
»Herr Seidelmann,« sagte sie. »Robert hat Tag und Nacht gearbeitet und uns ernährt. Morgen nehmen wir Geld ein, und dann werden wir die Miethe bezahlen!«
»Schön! Wenn morgen die Bezahlung unterbleibt, wird der Herr Baron Sie vor die Thür setzen. Was für Noten schreiben Sie denn ab?«
Er langte hin und ergriff das Blatt. Fast erschrocken warf er es wieder hin und rief:
»Liebeslieder! Liebeslieder! Und da reden Sie von Elend, von Arbeit und Hunger?«
»Liebeslieder?« sagte Robert. »Ich will Ihnen zeigen, daß dies kein Liebeslied
Weitere Kostenlose Bücher