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Der verlorne Sohn

Der verlorne Sohn

Titel: Der verlorne Sohn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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zählen. Man wußte, daß er aus Ostindien kam, doch war sein Teint keineswegs gebräunt, sondern im Gegentheil von einer Weiße und Reinheit, als ob er stets im Norden Europa’s gelebt habe. Sein Haar war tiefdunkel und voll, sein Bart ebenso. Sein Gesicht zeigte zwei Narben. Die eine ging quer über die Stirn und Nasenwurzel hinweg, und die andere kam vom rechten Ohre herab, ging über die Wange und verlief sich in dem stattlichen Schnurrbarte, den er sicherlich mit keinem anderen vertauscht hätte. Eigenthümlicher Weise wurde das Gesicht durch diese beiden Narben keineswegs verunziert; sie gaben demselben im Gegentheile einen männlich unternehmenden Character und jenes eigenthümliche, undefinirbare Etwas, welches den Frauenherzen so gefährlich ist. Er trug eine einfache, aber feine Gesellschaftstoilette, ganz ohne alles Ueberladene; aber der einzige Ring, den man an seinen Händen bemerkte, zeigte einen Solitair, welcher sicherlich den Werth von einer halben Million hatte.
    Wie würde er beginnen, und wie würde sie zu antworten haben? fragte sie sich. Aber ohne alle gesellschaftlichen Floskeln sagte er einfach:
    »Ich bin Freund der Dicht-und Tonkunst, mein Fräulein. Noch nie hörte ich das von Ihnen vorgetragene Lied. Darf ich mich erkundigen, von wem es ist?«
    Da befand sie sich ja mit einem Male in ihrem liebsten und bekanntesten Fahrwasser.
    »Das Lied, das heißt der Text ist von Hadschi Omanah, Durchlaucht,« antwortete sie.
    »Hadschi Omanah? Das ist ein mohammedanischer Geschichtsschreiber, welcher im sechzehnten Jahrhunderte lebte. Einen Zweiten dieses Namens kenne ich nicht, und doch kann es unmöglich dieser sein.«
    »Vielleicht ein Pseudonym?«
    »Das ist möglich, sogar wahrscheinlich. Und der Componist, meine Gnädige?«
    Sie erröthete ein Wenig, indem sie antwortete:
    »Der Componist spricht mit Ihnen, Durchlaucht.«
    »Wie? Ist’s möglich! Sie haben dieses Lied in Musik gesetzt?«
    »Ich habe es gewagt!«
    »Ja, es ist allerdings ein Wagniß! Ein Lied, oder zum Beispiel ein Salonstück für das Clavier zu componiren, das ist ein sehr, sehr großer Unterschied. Sie haben Ihre Aufgabe vortrefflich gelöst, mein Fräulein. Und das konnten Sie blos, weil Sie ein vortreffliches Herz besitzen. Ein herz-und seelenloser Mensch wird nie ein Lied componiren können.«
    Das war gar nicht die auffällige, aufdringliche Weise, in welcher Andere ihr Beifall zu spenden pflegten. Er sprach so einfach, und doch hörte man es, daß er ganz anders hätte sprechen können. Er sprach wie ein Bruder zur Schwester, ohne allen rednerischen Schmuck, ohne alle Verzierung. Seine Stimme hatte einen eindringlich herzlichen Klang. Seine Sprache hatte zwar etwas Fremdartiges, aber er war des Deutschen ganz und gar mächtig. Sie fühlte sich ganz herzlich zu diesem Manne hingezogen.
    »Wie schade, daß ich nun die Componistin und Sängerin, nicht aber den Dichter kenne,« fügte er hinzu.
    »Ist Ihnen sein Buch nie in die Hand gekommen, Durchlaucht?«
    »Niemals.«
    »Hier liegt es sogar.«
    Sie trat an ein Tischchen, auf welchem mehrere Albums lagen, und nahm von dort den bekannten Saffianband mit der Aufschrift ›Heimaths-, Tropen-und Wüstenbilder‹. Sie reichte ihm das Buch dar. Während der darinnen leicht blätterte, bemerkte sie:
    »Eigenthümlich, daß Ihr Name darin vorkommt!«
    »Mein Name? Ah, das wäre allerdings eigenthümlich!«
    »Ja. Als wir zum ersten Male hörten, daß ein Fürst von Befour hier angekommen sei, schlugen wir alle Hof-und Adelskalender nach – vergebens. Sie wissen, Durchlaucht, Damen sind stets wißbegierig. Um so mehr verstimmt wurden wir, als auch in keinem Lexikon dieses Wort zu finden ist.«
    »Waren auch Sie verstimmt?«
    »Ein Wenig, ja,« antwortete sie unter einem reizenden Lächeln. »Da las ich das unvergleichlich schöne, ja, das großartige Bild der tropischen Nacht und – da fand ich das Wort Befour.«
    »Wirklich? Das ist für mich von hohem Interesse. Sollte der Dichter wirklich ein Orientale sein!«
    »Nein. Ein Orientale dichtet nicht deutsch.«
    »Richtig! Und hätten wir eine Uebertragung vor uns, so würde der Name des Uebersetzers genannt worden sein. Wo steht das betreffende Gedicht?«
    »Darf ich es Ihnen aufschlagen und vorlesen, Durchlaucht? Es ist mir nämlich das beste und liebste der ganzen Sammlung.«
    »Bitte, thun Sie es!«
    Sie suchte die Seite, trat einige Schritte zurück und declamirte lesend, das Buch in der Linken:
     
    »Wenn um die Berge von

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