Der Vermesser (German Edition)
goldene Funkeln wieder auf.
Er fügte sich keine Wunden mehr zu. Er wagte es nicht. Zwar träumte er davon, wie sich seine Finger um den vertrauten Griff des Messers legten, träumte vom silbrigen Glitzern der Klinge, die ihm in die Haut schnitt, und dann spürte er, wie sein Herz einen Sprung machte, wie sein Blut in ekstatische Wallung geriet und sein Geist frohlockend aufjauchzte, aber er tat es dennoch nicht. Sein Blick folgte Polly durchs Zimmer, er bemerkte ihre gekrümmten Schultern, wenn sie sich niederkauerte und das Feuer schürte, und schaute ihr zu, wenn ihre Finger Nadel und Faden führten. Er lächelte sie an mit seinem zaghaften, verzweifelten Lächeln, und sie lächelte zurück. Wenn er sich schnitte, würde sie es merken. Sie würde ihn anschauen mit diesen Augen und nicht mehr lächeln, und sein Herz würde verdorren, sein Blut erkalten und sein Lebensmut brechen. Wenn sich Polly abwandte, bliebe ihm nichts als die dunkle, kalte beklemmende Angst. Er konnte es nicht tun. Er würde es nicht tun. Er war nicht geisteskrank. Man hatte ihn für gesund erklärt. Für gesund und unschuldig. Worte, fest und unverrückbar wie Felsgestein. Unanfechtbar. Auch wenn Ängste und Träume im Hinterhalt lauerten, so hatten sie doch keine Macht, das unwandelbare Wesen der Steine zu verändern. Wenn er sich wenig bewegte und nicht so viel grübelte, gelang es ihm sogar, sich so weit zu konzentrieren, dass er das Gefäß, das er war, ganz ruhig hielt, ohne etwas zu verschütten.
Einen Tag nachdem Hawke gehängt worden war, kam Pollys Bruder Maurice wie vereinbart vorbei. Er hatte in einem Dorf nur wenige Kilometer von Lambeth entfernt etwas zu erledigen, und um William und Polly Kosten zu sparen, würde er mit seinem leeren Wagen die wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren, abholen und zu sich nach Hause bringen, wo die Familie bleiben wollte, bis sich entscheiden würde, wie es weiterginge. Polly lief hinunter, um ihn zu begrüßen, und William beobachtete sie voller Unruhe vom Fenster aus. Als sie ihren Bruder begrüßte, kam die Postkutsche die Straße entlanggeholpert, und man übergab ihr ein Päckchen. Sie betrachtete es und blickte dann zu William hinauf, der ihr Lächeln zaghaft erwiderte und ihr ein Zeichen machte, sich zu beeilen. Dann verschwand sie aus seinem Blickfeld. Kurz darauf hörte er sie auf der Treppe, hinter ihr die schweren Schritte ihres Bruders.
»Ein Päckchen für dich«, sagte sie und drückte es William in die Hand.
William besah die Handschrift, sie war ihm nicht bekannt. Unbeholfen machte er sich an der Schnur zu schaffen, bis Polly ging, um ein Messer zu holen; sie verdeckte das Schränkchen mit ihren Röcken, denn Maurice sollte nicht sehen, dass sie es verschlossen hielt, auch wenn sie nicht wusste, ob diese Vorsichtsmaßnahme immer noch notwendig war. Wenn William es bemerkt hatte, so verlor er jedenfalls kein Wort darüber.
»Hier«, sagte sie. Er streckte die Hand nach dem Messer aus, doch sie ging vor ihm in die Hocke und schnitt die Schnur selbst durch.
William wickelte das Päckchen auf. Es enthielt nur ein ledergebundenes Notizheft und einen kurzen Brief. Die gedrängte Handschrift in schwarzer Tinte schien sich nicht entscheiden zu können, ob sie nach rechts oder nach links kippen sollte.
Polly nahm ihm den Brief aus der Hand. »Er ist von diesem Anwalt«, sagte sie. »Sydney Rose. Dein botanisches Skizzenbuch. Warum hast du es ihm gegeben? Wozu nur?«
William schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich nicht, Rose sein Skizzenbuch gegeben zu haben. Es war Monate her, seit er es zum letzten Mal in Händen gehalten hatte. Er wog es in der Hand. Der Ledereinband war zwar voller Flecken, fühlte sich aber noch immer weich und warm an. Als Polly ihren Bruder zu dem kleinen Stapel Kisten führte, reichte sie William den Brief zurück. Er war sehr kurz.
Mr. May,
wenn Sie diesen Brief erhalten, genießen Sie ganz sicher längst wieder das Leben als freier Mann. Bis zum heutigen Tag fällt es mir schwer, meinen Erinnerungen an diese ungewöhnliche Abfolge von Ereignissen zu trauen, die zu Ihrer Entlastung führten. Sie werden gewiss für den Rest Ihres Lebens Gott dafür dankbar sein.
Ihr ergebenster Diener
Sydney Rose
Es war das erste Mal seit seiner Freilassung, dass William von Rose etwas hörte. Als man ihn in Woolwich endlich gehen ließ, hatte er fast den Anwalt erwartet. Jetzt aber hatte er Mühe, die Hand, die sich unbeholfen durch den Spalt der eisernen
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