Der Vermesser (German Edition)
in der Baubehörde wieder aufzunehmen, war damit nicht verbunden. Der Brief, der die Einzelheiten der Abfindung regelte, stellte vielmehr klar, dass diese Geste der Großzügigkeit keineswegs eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses von May bedeutete, sondern dessen Beendigung, sozusagen den endgültigen und möglichst unkomplizierten Schlussstrich unter die ganze unerfreuliche Episode. Für Hawke war schnell ein Nachfolger gefunden, dem ein Team erstklassiger Mitarbeiter zur Seite gestellt wurde. Trotz des Skandals genoss die Behörde auch weiterhin die tatkräftige Unterstützung des Parlaments und der Londoner Bevölkerung. Die Bauarbeiten wurden ohne Verzögerung fortgesetzt. Und ohne William.
Polly machte aus ihrer Empörung keinen Hehl. Die Falten, die sich in ihre fahlen Wangen eingegraben hatten, wurden noch dunkler und tiefer. William habe sich nichts zuschulden kommen lassen, versicherte sie jedem, der es hören wollte. War das nicht sogar gerichtlich festgestellt worden? William war ebenso ein Opfer von Hawkes Heimtücke geworden wie England, und genau wie England hatte er keine Strafe, sondern Wiedergutmachung verdient. Dank der bösartigen Machenschaften dieses Ungeheuers war ihr Mann für geistesgestört erklärt und eingesperrt worden. Sie, die einst ein Haus und ein Dienstmädchen gehabt hatte, eine respektable Dame durchaus von Stand, musste sich jetzt mit einem einzigen Zimmer in einer Pension begnügen und Näharbeiten annehmen, nur um ihre beiden Kinder satt zu bekommen. Wenigstens eine öffentliche Entschuldigung wäre angebracht, das Eingeständnis, dass William, ja ihnen beiden furchtbares Unrecht angetan worden war, und das Recht, seine alte Position, sein altes Leben wieder aufzunehmen. War das etwa zu viel verlangt? Sie schrieb einen wütenden Brief an Rawlinson, Williams alten Wohltäter, erhielt aber nur eine knappe Antwort seines Sekretärs mit den besten Wünschen für eine rasche Genesung ihres Mannes und dem höflichen Hinweis, dass Rawlinson für Bazalgette und das Amt für öffentliche Bauvorhaben die größte Hochachtung hege; sie solle wissen, dass alle Entscheidungen der Behörde in dieser Angelegenheit seine uneingeschränkte Unterstützung hätten.
Als Polly diesen Brief erhielt, schlug sie zornig mit dem Handrücken dagegen, fuchtelte William damit ärgerlich vor der Nase herum und verlangte, er solle ihren Unmut teilen. Doch William zuckte nur kummervoll die Achseln und breitete die Arme aus. In diesen Wochen nach seiner Freilassung suchte er ihre Nähe, griff nach ihren Händen, wenn sie an ihm vorüberging, und barg den Kopf in ihrer Schürze. Sein banger Blick folgte ihr, wenn sie das Zimmer verließ. Er konnte es nicht ertragen, allein zu sein. Die Wirtin erlaubte ihren Mietern sonntags die Benutzung der Küche, und dort saß er gern mit Polly, den Schaukelstuhl an den Herd gerückt. Am meisten mochte er es, wenn sie Brot backte, obwohl der Bäcker täglich vorbeikam und die Mühe daher gar nicht lohnte. William saß in seinem Stuhl, sah seiner Frau zu und genoss den Duft des frischen Brotes. Er könne gar nicht genug kriegen von dem heißen, kräftigen Mehlaroma, beteuerte er. Dabei verschwieg er, dass der Duft des Brotes im Ofen eine Erlösung vom Gestank des Gefängnisses bedeutete, der sich in seiner Nase eingenistet hatte und ihn nachts in seinen Träumen heimsuchte – als graugrüne, sich immer weiter aufblähende, monströse Nebelschwaden. Er saß in seinem Schaukelstuhl und spielte, wie Di, mit Teigklümpchen, die er heftig knetete und rollte, bis sie grau waren und beim Backen partout nicht aufgehen wollten. Wenn das Brot aus dem Ofen kam, machte er ein so ernstes und bedrücktes Gesicht, dass Pollys strenge Miene sich aufhellte und sie lachen musste – nicht ausgelassen fröhlich wie früher, sondern prustend und in kleinen Portionen, als hätte sie wenig davon und müsste sparsam damit umgehen. Dann lächelte auch William. Seitdem er das Gefängnisschiff verlassen hatte, lächelte er oft. Es war ein zaghaftes, verkrampftes Lächeln, das begierig war, auch nur den geringsten Widerschein in Pollys Gesicht zu erhaschen. Meine kleine Kreuzblume, murmelte er sehnsuchtsvoll, tastete nach ihren Händen und sog den Geruch ihres Körpers ein. Meine allerkostbarste Kreuzblume. Und sie drückte ihm die trockenen Lippen auf die Stirn, und für einen kurzen Augenblick glätteten sich die Falten in ihrem Gesicht, und in ihren karamellbraunen Augen blitzte jenes alte
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