Der Vermesser (German Edition)
Schimmer, seine dicken Brauen und sein Schnurrbart waren schweißnass.
»Wir rühren nichts an«, sagte sein Kollege bestimmt. »Wir sind nur als Zeugen hier. So lautet unsere Anweisung.«
Er sah Rose herausfordernd an, doch der erhob keinen Einwand. Er bat sie nur darum, wenigstens ihre Laternen hochzuhalten, damit er besser sehen könne. So systematisch wie möglich und bemüht, einen klaren Kopf zu behalten, fing er an, die glitschige Wand abzutasten, schob die Finger in den zerfallenen Mörtel und prüfte jeden Backstein, ob er ihn herausziehen konnte. Die Handschuhe waren ihm dabei nur hinderlich. Nach einer Viertelstunde streifte er sie ab, wie gelähmt vor Ekel und Enttäuschung. Das Gefühl der verrottenden Backsteine an den bloßen Händen verursachte ihm Brechreiz. Einige zerbröselten bei der bloßen Berührung. Einen konnte er unversehrt herausziehen. Mit einem Fünkchen Hoffnung, die über seinen Abscheu siegte, griff Rose in die Lücke. Sie war feucht und voller Schlick und Geröll. Der Schlamm drückte sich zwischen seine Finger und drang ihm unter die Nägel. Rose warf den Backstein beiseite und tastete die Mauer weiter ab, von oben nach unten, drückte und zog an den Steinen, krampfhaft bemüht, nichts zu denken und nichts zu fühlen. Er musste besonnen vorgehen und durfte keine Stelle auslassen. Zwanzig Minuten vergingen, dreißig. Der Vorarbeiter sah ihm schweigend zu. Noch immer nichts. Immer ungeduldiger riss Rose an den Steinen, rüttelte und zerrte an ihnen und warf die herauspurzelnden Brocken ins Wasser. Seine Hände waren dreckverschmiert, die Finger aufgeschürft und wund, die Nägel abgebrochen.
Doch er gab nicht auf. Schließlich verzog der Vorarbeiter den Mund zu einem leisen Grinsen. »Ich glaub, der hört nicht auf, bis er uns alle lebendig begraben hat«, sagte er trocken.
Der Wachtmeister, noch immer grün im Gesicht, stieß einen gequälten Seufzer aus, schloss die Augen und fächelte sich mit einer Hand Luft zu.
Rose war jetzt am Ende der Tunneleinbuchtung angelangt. Die andere Wand. Es musste die gegenüberliegende Wand sein. Durch das brackige Wasser watete er auf die andere Seite und begann dort von neuem mit der Suche. Wortlos tastete er sich auch hier voran, bis er zu einer Stelle gelangte, die im Schatten lag. Er hatte geglaubt, es sei eine durch das Laternenlicht hervorgerufene Täuschung, aber jetzt, als er näher kam, erkannte er, dass es eine Nische in der Tunnelwand war, die vom Knie bis zu den Schultern reichte und etwas mehr als einen halben Meter breit war. Die Backsteine schienen hier lockerer, die Nischenwand war von Löchern und schwärzlichem Geröll durchzogen, die an Zahnstummel im Mund eines alten Weibes erinnerten. Rose bat den Vorarbeiter, ihm zu leuchten. Er betastete die missgestalteten Backsteine, riss und zog. Da! Ein Backstein war beinahe unversehrt, die Ecken und Kanten noch nicht abgebröckelt, doch mit tiefen Kratzern auf der Oberfläche. Rose zog ihn heraus. Dahinter klaffte ein dunkles Loch, das größer war als ein einzelner Backstein. Ihm stockte das Herz. Das musste es sein. Ganz sicher. Mit zitternder Hand griff er hinein. Wieder sandiger Mörtel und Geröll. Doch dann stießen seine Finger an etwas Glattes. Der Puls hämmerte ihm in den Ohren, als er es packte und herauszog. Ein Buch, ein ledergebundenes Notizheft. Alles hatte er erwartet, nur das nicht. Rose drehte und wendete es in der Hand. Auf der Vorderseite waren die Initialen WHM eingeprägt. Und auf dem blassen Leder ein dunkler Tintenfleck. Nein, keine Tinte. Es war Blut. Roses Mund wurde trocken.
Er schlug das Heft auf. Darstellungen von Blumen, wunderschön mit Tusche gezeichnet und mit Wasserfarben ausgemalt und penibel beschriftet. In der Mitte leere Seiten, ein paar unleserliche Krakel in derselben Handschrift. Rose blätterte weiter. Auf einer Seite in Großbuchstaben nur ein einziges Wort. Rose wurde schwindlig, kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er schlug die nächste Seite auf, die übernächste, zerknitterte das Papier, riss daran. Seite um Seite immer nur ein und dasselbe Wort, dieselbe Handschrift. Der Stift hatte sich durch das Papier gedrückt. Und quer über den Seiten dunkelbraune Flecken wie dicke Tinte. Oder Blut. Seite um Seite immer wieder dasselbe Wort.
TÖTEN . TÖTEN . TÖTEN .
Der widerliche Gestank des Tunnels wurde jetzt noch bedrängender und würgte Rose in der Kehle. Er schloss die Augen und versuchte, die Übelkeit hinunterzuschlucken. Der
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